Sozialraumorientierung 4.0. Группа авторов
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A.Unterscheidung zwischen Bedarf und Wille: Wenn wir nach Bedarfen fragen, suchen wir nach Antworten auf die Frage, was ein Mensch braucht. Meine Tochter braucht z. B. regelmäßig eine frische Windel. Ihr Wille ist ein ganz anderer. Sie will z. B. zum blauen Ball, unbedingt und unaufhaltsam. Oder sie möchte unbedingt auf der kleinen Bank sitzen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, wie unterschiedlich Bedarfe interpretiert werden können: Wenn meine Tochter eine frische Windel braucht, also einen Bedarf hat, dann scheiden sich die Geister darüber, ob sie sofort oder jetzt dann eine frische Windel benötigt. Willensäußerungen lassen diesen Interpretationsrahmen deutlich weniger zu. „Wer sich […] darüber Gedanken macht, was Kinder brauchen, offenbart schon in der Art der Fragestellung seine (patriarchale) Haltung.“ (Hinte/Treeß 2014, S. 38/39). Wenn ich stattdessen versuche, herauszufinden, was meine Tochter will, nehme ich sie als aktives Subjekt wahr, das eine eigene Sicht auf die Welt hat. Ihr Wille ist ihr dabei bestimmt nicht reflexiv bewusst, aber wenn ich ihr mit einer offenen Haltung begegne, kann sie ihren Willen entdecken und ausdrücken – und sei es, dass es ihr nur darum geht, den blauen Ball in ihren kleinen Kinderhänden zu halten.
B.Jeder Mensch hat einen Willen: Ich weiß nicht genau, wann es begonnen hat, dass meine Tochter wollte. Ich habe den Eindruck, dass es schon immer da war. Manchmal hat sie einen sehr starken Willen, der mir gar nicht gefällt, manchmal hat sie einen Willen, der mir gut passt. Berechnen lässt er sich nicht und manchmal fordert er mich heraus. An anderer Stelle erfreut er mein Herz und macht mich richtig stolz.
C.Wille und Wunsch sind miteinander verwoben: Meine Tochter hat viele Willen. Und sie hat viele Wünsche. Abhängig von ihren Möglichkeiten gerät so mancher Wunsch in Bewegung und wird zum Willen. Manchmal mache ich mich aber auch zum verlängerten Arm ihres Selbst und sorge dafür, dass ein Wunsch realisiert wird (sie will unbedingt vom Erdgeschoss in den ersten Stock, und das Treppengitter versperrt ihr den Weg – sie will unbedingt, sie tut alles dafür, kann es aber nicht alleine schaffen). Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dadurch zum Wunscherfüller mache, oder ob ich ihr dabei helfe, dass ihr Wille realisiert wird. Bei meiner zweijährigen Tochter erkenne ich deutlich, dass auch der Wille Grenzen hat. Begrenzt wird er zum einen von dem, „was die Wirklichkeit zulässt und was nicht“, und zum anderen von der „Begrenztheit unserer Fähigkeiten“ (Bieri 2001, S. 38). Es gibt also Wünsche, die nicht zum Willen werden können. Entweder, weil der Möglichkeitsraum der Welt oder die Fähigkeiten und individuellen Möglichkeiten der Person das (noch) nicht zulassen. Übertragen auf die Soziale Arbeit etwa im Kontext der Behindertenhilfe ergibt sich daraus wiederkehrend eine spannende Diskussion in Trainings zu der am Willen orientierten Arbeit. Ich frage die Seminarteilnehmer/innen gerne, ob ein Mensch mit eingeschränkten Ressourcen tatsächlich einen Willen hat oder ob es da nicht vielmehr um die Orientierung am Wunsch gehen muss, weil der Wille eben genau diese Begrenztheit erfährt. Die Antwort der Teilnehmenden fällt immer eindeutig aus: Jeder Mensch hat einen Willen. Niemand würde einem Menschen, selbst wenn er komplexe Beeinträchtigungen hat und sich kaum regen und äußern kann, den Willen absprechen. Auch bei eingeschränkten Möglichkeiten und Fähigkeiten äußern Menschen ihren Willen. Unsere große Kunst ist es dann, den Ausdruck des Willens zu verstehen, und nicht, ihn zu interpretieren.
1.Willensorientierung zwischen Theorie und Praxis
In der Theorie hat das Prinzip der Willensorientierung einen philosophischen Charakter (Raspel 2019, S. 67 ff.), es wirkt für Praktiker/innen faszinierend und es macht vielen Lust, mit dem Willen als „Ausdruck eigensinniger Individualität“ (Fehren/Hinte 2013, S. 14) zu arbeiten, denn „er führt oft zu den psychischen Kraftquellen des Menschen, aus denen er Energie und Würde schöpft“ (ebd). In der Praxis zeigt sich die Orientierung am Willen allerdings als äußerst anspruchsvoller Grundsatz. Die damit verbundene Haltung beschreibt Wolfgang Hinte wie folgt:
„Letztendlich geht es darum, wegzukommen von der auf die Klientin bzw. den Klienten bezogenen Haltung des ,Ich weiß, was gut ist und das tun wir jetzt‘ über das Eigentlich weiß ich schon, was für Dich gut ist, aber ich höre Dir erstmal zu‘ hin zum konsequenten ,Dein Wille wird ernst genommen – er ist mir nicht Befehl, aber ich will mich ihm mit meinen fachlichen und den leistungsgesetzlichen Möglichkeiten stellen‘.“ (Hinte 2019, S. 13/14).
Daran orientiert zu arbeiten, setzt in der Sozialen Arbeit zunächst eine Klärung darüber voraus, ob der Kontext der Zusammenarbeit zwischen Klient/innensystem und Helfer/innensystem im Bereich der Freiwilligkeit verortet ist oder ob es sich um eine Zusammenarbeit im Zwangskontext (etwa Kinderschutz) handelt. Im ersten Fall stellt sich die Frage, was Menschen wollen. Im zweiten Fall geht es um die Frage, ob Menschen bereit sind, zu kooperieren. Im ersten Fall können Klient/innen, wenn sie nicht mehr wollen, jederzeit aus der Zusammenarbeit aussteigen. Im zweiten Fall hat es Konsequenzen zur Folge, auch wenn sie das überhaupt nicht möchten. Ich konzentriere mich in diesem Beitrag auf den ersten Bereich: Orientierung am Willen im Kontext der Freiwilligkeit. Selbstverständlich haben Menschen auch im Zwangskontext einen Willen. Das die Zusammenarbeit begründende Anliegen ist allerdings die Abwendung der Gefährdung, etwa die Sicherung des Kindeswohls, und das unabhängig davon, welchen Willen die Betroffenen, etwa Eltern, Betreuer/innen oder wer auch immer gerade in anderen Angelegenheiten verfolgen. Klar ist, dass die am Willen orientierte Arbeit genau diese Trennschärfe braucht.
Für die am Willen orientierte Zusammenarbeit des Helfersystems mit dem Klient/innensystem ergibt sich daraus folgernd oft ein einleitender Schritt: Die Klärung der Falleinordnung bezogen auf potentielle Gefährdungslagen. Wird Fremd- oder Selbstgefährdung vermutet, ist sie vorhanden oder kann eine Gefährdung ausgeschlossen werden?
Im nächsten Schritt wird das Problem erfasst und gewürdigt. Hier zeigt sich wieder die Haltung: Probleme werden durch eine gute Beobachtung, gutes Zuhören ergründet und eingekreist. Die Fachkraft ist hier in der Rolle eines/einer Prozessbegleiters/Prozessbegleiterin und zu keiner Zeit in der Rolle des/der Experten/Expertin, der/die weiß, was „richtig“ ist und wo der Hase im Pfeffer liegt. Ausgehend von Problemlagen, dem häufigsten Anlass für das Auftreten Sozialer Arbeit1, ist die Willenserkundung im Grunde ein einfacher Perspektivenwechsel vom Problem hin zum Ziel, und zwar in drei Prozessschritten:
1.„Was genau ist das Problem?“ Und: „Habe ich Sie richtig verstanden, dass … Ihr Problem ist?“
2.„Stört Sie dieses Problem so sehr, dass SIE das ändern wollen?“
3.„Wie wäre es dann? Wie wäre es, wenn es geändert wäre? Was wäre dann anders?“
Dieser dreischrittige Prozess der Willenserkundung mündet in der Zielerarbeitung. Er wirkt sehr einfach und ist sehr wirkungsvoll. Manchen Fachkräften scheint der Prozess zu einfach zu sein. Meine Beobachtung ist, dass nicht selten eine etwas zu komplizierte Gesprächsführung angeboten wird, die hier und da im Chaos endet. Einfach ist es, aber nicht leicht!
2.Stolpersteine bei der Willenserkundung
Nun treffen Fachkräfte hin und wieder auf schwierige Fälle, die einen dazu verleiten, aus der Willensorientierung auszusteigen. Doch sind es wirklich die Fälle, die „schwierig“ sind, oder sind es nicht eher komplexe Kontexte und für die Willenserkundung mehr oder weniger herausfordernde Gegebenheiten? Letztere können in der Praxis zu dem Eindruck führen, dass Klient/innen keinen Willen haben. Eine Einschätzung, die oft zu schnell und zu wenig fundiert getroffen wird. Betrachtet man die Vielzahl an herausfordernden Momenten bei der Willenserkundung, findet man wiederkehrend folgende Stolpersteine