Sozialraumorientierung 4.0. Группа авторов
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Die Antwort darauf ist vielschichtig, weil sie viele gewohnte Annahmen vom Kopf auf die Beine stellen muss. Die Ursachen liegen dabei m. E. auch in den nach wie vor wirksamen Entwicklungslinien Sozialer Arbeit in deutschsprachigen Ländern theokratischer Prägung und monarchisch-obrigkeitsstaatlicher Tradition sowie deren Tendenz, einen an konkreten Lösungen orientierten Pragmatismus dem Moloch einer nur scheinbar verallgemeinerbaren, theoretischen Begründbarkeit des Handelns zu opfern.
Der Unterschied in der historischen Entwicklung ähnelt dem im angloamerikanischen Raum prominenten „Case Law“ zum kontinentaleuropäisch materiell-rechtlichen Zugang zur Rechtsprechung und Fortschreibung, indem auf die Komplexität des jeweiligen Sachverhalts nicht in erster Linie ein formalistischer Katalog angelegt wird, sondern die Form dem Inhalt folgt und pragmatisch-evolutionär passgenaue Lösungen weiterentwickelt werden.
An den fachlichen Verwerfungen rund um den Respekt vor dem Willen der Adressat/innen Sozialer Arbeit zeigt sich eine Starrheit Sozialer Arbeit in behördlich-obrigkeitsstaatlicher Tradition („Europäische Schule“) im Vergleich zu einer adaptiv-flexiblen Provenienz („Angloamerikanische Schule“). Die „Titanic“-Sozialarbeit, die sich in erster Linie als Teil staatlicher Hoheitsverwaltung versteht und als solche dem Eigenwillen der Nutzer/innen prinzipiell eher argwöhnisch begegnet, bewegt sich auf Kollisionskurs mit dem „Eisberg“ der Sozialraumorientierung.
Diesem traditionellen Diskurs auf dem falschen Dampfer stellt sich SRO ja in den Weg als Ausdruck eines theoretisch breit fundierten, jedoch unprätentiösen, „polytheistischen“ Pragmatismus, wie er von Ludwig Marcuse (1994) beschrieben wird und von dessen streitbarem Geist auch die angloamerikanische Sozialarbeit durchdrungen ist.
2.Historischer Exkurs: Bürokratischer Paternalismus und der Versuch einer Normierung des Willens
Das Establishment der Sozialen Arbeit teilt also gegenüber der SRO und ihren Implikationen das Erstaunen Ferdinand des Gütigen (1793-1875) angesichts der revoltierenden Arbeiterschaft in Wien 1848: „Ja, dürfen‘s denn das?“, meinte der österreichische Kaiser naiv, als die Arbeiter/innen auf die Barrikaden stiegen. Sie dürfen nicht nur – sie wollen und tun.
Als im 18. Jahrhundert das politische Konstrukt einer „volonté générale“ – eines fiktiv allgemeinen Willens, der den Willen Einzelner bzw. sozialräumlicher Gruppen ex lege normieren soll und darf – seinen Siegeszug antrat, baute sich in dessen Schlagschatten eine Bürokratie auf, die sowohl dem Monarchen als auch dem – im noch unerfahrenen Parlamentarismus sich entwickelnder Demokratien – mächtigen Staat die Umsetzung der vorherrschenden Interessen ermöglichte. Soziale Arbeit entwickelte sich in und an den Bruchlinien dieser höchst divergenten und machtungleichen Interessen. Ihre Pionier/innen griffen insbesondere Gesundheit und soziale Absicherung der arbeitenden Bevölkerung „bottom up“ auf.
So waren es der notwendigerweise in manchen Phasen auch auf die „Straßen getragene“ manifeste Wille und die Wirkmacht der Betroffenen, die Normentwicklung und Normänderungen teils auf revolutionärem, teils auf demokratischem Wege erreichten. Parallel zu diesem Prozess progressiver Etablierung von Wohlfahrtsstaaten gingen der Parlamentarismus und die jungen Demokratien jedoch daran, Soziale Arbeit breitflächig zur Normanpassung in den sich entwickelnden Industriegesellschaften zu instrumentalisieren. Die dunkelsten Kapitel der Professionsgeschichte in Faschismen und Totalitarismen unterschiedlichster Provenienz legen grausames Zeugnis darüber ab.
Nach dem bösen Erwachen infolge von Diktatur und Weltkrieg konnten sich auch die Protagonisten der Sozialarbeit dem Sog des gesellschaftlichen Umbruchs der 1968er-Bewegung nicht entziehen – ja, trugen diesen vielerorts auch innovativ-radikal mit, wenn wir etwa an die Deinstitutionalisierung der 70er Jahre und den ersten Boom der Gemeinwesenarbeit denken.
3.Sozialraumorientierung versus Status quo – wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing
Längst hat jedoch Ende des 20. Jahrhunderts die Soziale Arbeit einen Burgfrieden mit dem neoliberal aktivierenden Workfare-State geschlossen, den ihre Vertreter/innen in Sozialpolitik und Sozialadministration sowie ihre Vertragspartner/innen bei den Trägerinstitutionen nun durch das aufrührerische Konzept der Sozialraumorientierung bedroht sehen. Der SRO gleichzeitig zu unterstellen, dass sie diese Komplizenschaft selbst betreibe, ist Ausdruck einer klassischen „Haltet den Dieb!“-Strategie.
Denn wenn die SRO einen „New Deal“ einfordert, der v. a. die Interessen und den Willen der unmittelbar von Interventionen und Angeboten der Sozialen Arbeit Betroffenen im Fokus hat, macht sie sich hoch verdächtig, diesen Burgfrieden zu stören.
SRO tut dies in zweierlei Hinsicht: Einerseits, indem sie die gewohnte Marktlogik und die Finanzierung der Träger über das Lukrieren ihrer jeweiligen Spezialfälle auf die Vorderbühne zerrt. Andererseits macht dieses Fachkonzept insbesondere durch die Fokussierung auf die im Sozialraum vorhandenen (oder eben aufgrund struktureller Benachteiligung eben nicht vorhandenen) Ressourcen aufmerksam und zwingt – freundlich, aber konsequent – die kommunal sozialpolitisch und -planerisch Verantwortlichen zu einem Offenbarungseid. Hic Rhodos, hic salta, Kommunalpolitik!
Wenn die einzelnen Träger in Sozialraumteams ihre Interessen vor allen Stakeholdern und letztlich auch vor den Nutzer/innen Sozialer Arbeit offenlegen müssen, wird der (grundsätzlich auch nicht unberechtigte, weil vom Willen der Einrichtungsbetreiber getragene) Eigennutzen vor dem Sozialraumnutzen rasch transparent und somit verhandelbar.
Diesen Institutionen und den dort beschäftigten Kolleg/innen die Sorge zu nehmen und deutlich zu machen, dass unter Umständen ihr derzeitiges institutionell-professionelles Produkt in der konkreten Situation oder in absehbarer Zeit nicht mehr nachgefragt wird bzw. – im Sinne eines sozialpolitisch-gesellschaftlichen Fortschritts – glücklicherweise nicht mehr nachgefragt werden muss, gilt es in der Fachöffentlichkeit sowie in den Aus- und Fortbildungsinstitutionen klar zu kommunizieren.
An dieser Stelle sei mir ein mehr als augenfälliges Beispiel gestattet: Hätte die Institution der Tuberkulose-Fürsorge, die im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts die Gesundheitssituation in den Wohnquartieren massiv verbessert hat, dafür sorgen sollen, dass ihre Leistungen auch weiterhin dauerhaft nachgefragt werden? Eine horrende Vorstellung, die letztlich auf Neuinfektionen durch Hintertreibung des eigentlichen Ziels hinausgelaufen wäre! Wenn es jedoch ein – auch klar budgetiertes – Commitment der politisch Verantwortlichen im Sozialraum gibt, die Gesundheit der Menschen über das bewältigte Thema TBC hinaus weiter zu verbessern, ist gesichert, dass die professionelle Erfahrung und das Know-how dieser Institutionen und der darin beschäftigten Fachkräfte für ähnlich gelagerte oder neue Themen nutzbar bleiben (Prävention, Sucht, HIV…).
Die in praktischen Umsetzungskonzepten der Sozialraumorientierung angelegte Strategie, die Anbieter Sozialer Arbeit und die meist behördlichen Auftraggeber in Sozialraumteams auf Augenhöhe an einen Tisch zu bringen und über ein Sozialraumbudget zu finanzieren, zog und zieht vordergründig die Kritik auf sich, hier träfe sich ein abgeschlossener Zirkel und verteile in „quasimafiöser“ Manier die vorhandenen bzw. per politischem Federstrich gedeckelten Mittel.
Dass hier jedoch genau sozialplanerisch