Grundlagen der globalen Kommunikation. Kai Hafez
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Interessant ist an Giesecke besonders, dass er die interkulturelle Fernbeziehung in seine Analyse einbezieht (2002, S.145ff.). Er bestätigt, dass bei interkultureller Kommunikation seit Jahrhunderten der Kommunikationsmodus der medialen Beobachtung dominiert hat, das Schreiben über und die Visualisierung von statt der Interaktion mit „Fremden“. Beobachtung statt dialogischem Austausch war ja auch der vorherrschende Modus des Kolonialzeitalters, das bis heute nachwirkt. Nach Giesecke haben wir in der Aufklärung eine Kultur der Neugierde, aber ohne echten Dialog, etabliert. Den Dialog bezeichnet er hingegen als Medium, um das „Gemeinsame der Menschheit“ hervorzubringen, und die neuen digitalen Medien erscheinen ihm als probates Heilmittel, auch wenn er hinzufügt: „Was immer mit dem globalen Dorf gemeint sein mag, es baut sich nicht allein auf dem Internet auf. Wir sind nicht nur durch Kabel, sondern auch durch andere Medien verbunden. Das ‚globale Dorfʻ bedarf unterschiedlicher Interaktions-, Kooperations- und Kommunikationsmedien, wenn es zusammenhalten und funktionieren soll“ (ebenda, S.376).
Integrationistische Systemtheorien
Literatur, die sich speziell mit der Frage der internationalen Kommunikation und Vergemeinschaftung beschäftigt, gibt es vergleichsweise wenig. Einige Pioniere haben jedoch die Auswirkungen von globaler Interaktion auf weltweite Vergemeinschaftung untersucht. Hier sind vor allem Autoren zu nennen, die Howard Frederick unter dem Label der „integrationistischen Systemtheoretiker“ zusammenfasst, wie etwa Karl W. Deutsch, Claudio Cioffi-Revilla, Richard L. Merritt, Francis A. Beer, Philip E. Jacob oder James V. Toscano (1993, S.202ff.). Das Credo dieser Arbeiten, die zum Teil schon in den 1960er Jahren entstanden, ist genau die oben mit dem Orchesterbild angedeutete Dynamik. Die internationale Integrationstheorie misst vor allem den Umfang von Interaktionen zwischen Einheiten wie Staaten und setzt diesen in Beziehung zum innergesellschaftlichen Kommunikationsaufkommen. Als empirische Basis dienen in diesen frühen Arbeiten üblicherweise der Brief- und Telefonkontakt, aber auch Daten des kulturellen Austausches etwa bei universitären Auslandsstudien. Die Hypothesen dieser sehr quantitativ orientierten Forschung sind Variationen der Grundannahme, dass nur eine interaktive und nicht nur koorientierte und beobachtende Welt ein stabiles Gerüst für eine Weltgemeinschaft sein könne. Karl W. Deutsch argumentiert, dass die Abwesenheit von Kommunikation zwischen Staaten zwar nicht notwendig zu Konflikten führen müsse, dass aber die Möglichkeiten der sozialen Kommunikation mit den Erfordernissen politischer, ökonomischer und sozialer Transaktionen auf anderen Feldern mithalten müssen (1970, S.58).
Mit anderen Worten: Ein Mangel an grenzüberschreitender Interaktion muss nicht zu Konflikten führen (vgl. a. Beer 1981, S.133, Rosecrance 1973, S.136ff.), aber eine Integration zu größeren Gemeinschaften etwa im Rahmen der Europäischen Union oder anderer internationaler Sicherheitsgemeinschaften hält er in einem solchen Zustand der Interaktionslosigkeit für undenkbar. Deutsch betont mit Nachdruck, dass eine Akzeptanz der politischen oder wirtschaftlichen Integration gleich welcher Art nur dann erfolgen könne, wenn Menschen diese Integration auch selbst erleben; nur so könne ein Wir-Gefühl (we-feeling) entstehen (1970, S.36). Er unterstreicht, dass solche Erfahrungen sowohl für politische Eliten als auch für die Gesellschaft an sich von Bedeutung seien (favorite societal climate, 1964a, S.51). Integrationstheoretiker betonen den Zusammenhang zwischen dem durch Medien vermittelten Image eines anderen Landes und menschlichen Beziehungen zwischen den Ländern, die sich durch Interaktionen wie Brief- und Telefonaustausch – heute würde man das Internet und andere Reisetätigkeiten hinzurechnen – ergeben (ebenda, S.54, 1964b, S.75ff.).
Dass die Angleichung internationaler politischer und ökonomischer Beziehungen einerseits und sozialer Interaktionen andererseits eine Wunschvorstellung ist, die nicht immer mit der Realität einhergeht, sondern, mit eigenen Worten ausgedrückt, „tektonische Verschiebungen“ zwischen den Beziehungsebenen die Regel sind (Hafez 1999, S.54ff.), haben die integrationistischen Systemtheoretiker dabei sehr frühzeitig erkannt: „Human relations are […] far more nationally bounded than movements of goods“ (Deutsch 1964b, S.84). Sezessionen wie die zwischen Großbritannien und den USA im 18.Jahrhundert etwa ließen sich auch auf Basis der kommunikativen Verbindungen nachvollziehen: zunächst war der Postverkehr zwischen England und den Kolonien ausgeprägter. Einige Jahrzehnte später jedoch hatte sich das Bild verändert, die Kolonien kommunizierten stärker miteinander, die sozialen Kontakte zu Britannien wurden immer spärlicher, wenig später brach der Unabhängigkeitskrieg aus (Deutsch 1964a, S.51). Die integrationistischen Systemtheoretiker konnten zudem nachweisen, dass der nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte multinationale Zusammenschluss europäischer Staaten den Briefverkehr und andere Interaktionen zwischen den Staaten verstärkte, was wiederum die europäische Idee in der Mitte der Gesellschaften ankommen ließ und den Eliten eine immer stärkere Integration ermöglichte (Clark/Merritt 1987, S.230ff.). Bis in die Gegenwart ist trotz der gewachsenen Kritik an der Europäischen Union und neonationalistischen Bewegungen wie dem Rechtspopulismus die europäische Idee selbst in Europa mehrheitsfähig. Hypothetisch könnte man fragen, ob mögliche Absatzbewegungen von der EU nicht auch damit erklärt werden können, dass gerade zwischen bestimmten Räumen (Nord- und Südeuropa oder Ost- und Westeuropa) eben noch immer zu wenig grenzüberschreitend kommuniziert wird – von dem Fehlen einer gemeinsamen europäischen Medienöffentlichkeit einmal ganz abgesehen.
Fazit: Dialog der „Kulturen“ in der erweiterten Lebenswelt
Unabhängig davon, ob man die quantitativen Methoden der früheren Forschung heute immer nachvollziehen kann (ist die Qualität mancher Interaktionen nicht bedeutsamer als die schiere Anzahl der Briefe, Telefonate und E-Mails?) oder ob man, wie in diesem Buch, Systemtheorie zur Handlungstheorie der Lebenswelt erweitern will (vgl. Kap. 1.2), weist die Schule der integrativen Systemtheoretiker dennoch den richtigen Weg. Dass das globale Integrationsdenken in der politologisch orientierten Sozialforschung entstanden ist, zeigt schon, dass weniger die Massenmedien, sondern vielmehr andere Sozialsysteme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie Individuen und Gruppen in den Lebenswelten für Dialogverhältnisse verantwortlich sind. Gerade in der Annahme, soziale Kommunikation sei ebenso wichtig wie politischer und ökonomischer Austausch, liegt eine geradezu revolutionäre theoretische Deutung, die Kommunikation zur zentralen Ressource der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung gleichrangig mit ökonomischen Verhältnissen und Herrschaftsbeziehungen macht.
Spätere kommunikationswissenschaftliche Forschungen wie die zum „Dialog der Kulturen“ oder zum „islamisch-westlichen Dialog“ konzentrieren sich wieder sehr viel mehr auf globale Medienkommunikation, Feindbilder und Images – Forschungsrichtungen, die ohne Zweifel gemäß der Flusser’schen Zweiteilung der Kommunikationsmodi in Diskurs und Dialog ihre Berechtigung haben, direkte Interaktionen aber eher am Rande berücksichtigen (Quandt/Gast 1998, Hafez 2003). Neuere Arbeiten der politischen Philosophie zur globalen Gemeinschaft benutzen zwar den Begriff des „Dialogs“ in einem interaktiven Sinn, ignorieren aber die kommunikationswissenschaftlichen Dimensionen des Problems (Linklater 1998, Etzioni 2004). Dass der „Dialog der Kulturen“ daher eine theoretisch nie recht zufriedenstellende Formel war, weil die ursprünglich bei Systemtheoretikern wie Deutsch angelegte Symbiose aus Gesellschafts- und Kommunikationsanalyse verloren gegangen ist, sei an dieser Stelle ausdrücklich festgehalten.
1.2 Kommunikationssysteme, Lebensweltwelten und deren Wandel
Systeme und Lebenswelten
Nach Etablierung eines kommunikationstheoretischen dualen Leitbildes einer sowohl beobachtenden Weltöffentlichkeit wie auch interaktiven globalen Gemeinschaft fragen wir nun, welche Akteure in den internationalen Beziehungen als Kommunikatoren in Frage kommen. Vor einem näheren Eingehen auf Akteurstypen sind allerdings einige metatheoretische Betrachtungen erforderlich, um Missverständnissen im Zuge der Theoriebildung vorzubeugen. James N. Rosenau hat es als Aufgabe der Globalisierungstheorie bezeichnet, Mikro- und Makrointeraktionen von Individuen beziehungsweise Staaten