Medienrezeptionsforschung. Helena Bilandzic
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Daran schließt sich die Frage an, was Publika eigentlich sind. Bei einem Präsenzpublikum ist es ganz einfach: Wer im Kinosaal oder im Theater während einer Aufführung sitzt, gehört zum Präsenzpublikum. Mit zunehmender räumlicher und zeitlicher Trennung und einer technischen Übertragung wird auch das Publikum weniger greifbar und abstrakter (vgl. Sullivan, 2013, S. 2 ff.). Daher spricht man vom Publikum als einer diskursiven Konstruktion (vgl. Bratich, 2005, S. 243), die empirisch, theoretisch oder politisch zustande kommt und keine greifbare Entsprechung in der Realität hat (vgl. Hartley, 1992, S. 105). Wie auch Maletzke betont, ist das Konzept des Publikums nicht als stabile Rolle zu verstehen, die jemand ständig innehat: Ein Mensch trägt sie nur in der spezifischen Mediensituation, nicht aber darüber hinaus; und nur unter der Bedingung, dass er oder sie sich einem Medium zuwendet – das Publikumskonzept ist demnach situativ und kontingent (vgl. Sullivan, 2013, S. 6; Bratich, 2005).
1.3 Neue Medienumgebungen, neue Rezeptionsweisen?
1.3.1 Veränderungen in der heutigen Medienlandschaft
Die technische Basis der heutigen Medienlandschaft ist die Digitalisierung, die Aufnahme, Übertragung und Wiedergabe von Text, Bildern und Tönen in einem digitalen Code (vgl. Sullivan, 2013, S. 216); neben einer Effizienz in der Speicherung und Übertragung hatte diese Entwicklung auch den Vorteil, bestimmte Informationsformate (z. B. Text, audiovisuelle Produkte) von der vormals fest damit verknüpften technischen Plattform zu entkoppeln (z. B. Zeitung, Fernsehen) und auf vielen verschiedenen Endgeräten zugänglich zu machen (z. B. Computer, Mobiltelefon, Tablet) (ebd.). In der gegenwärtigen Medienlandschaft verschwimmen die Grenzen zwischen den Medien aus diesem Grunde. Die Medien konvergieren, sie nähern sich an, weil Inhalte, die ursprünglich von verschiedenen Massenmedien bereitgestellt wurden, nun auf einem Endgerät wiedergegeben werden können (vgl. ausführlich zur Konvergenz: Dwyer, 2010; Nightingale & Dwyer, 2007). Zugleich ist Konvergenz nicht nur eine technische Vorgabe, sondern auch ein kultureller Prozess, den die Nutzer entscheidend mitprägen, wenn sie vernetzte Informationen ausschöpfen und andererseits auch selbst Inhalte produzieren und bereitstellen (vgl. Jenkins, 2006).
Computer und Mobiltelefon ermöglichen den Zugang zum Internet und damit auch den Zugang zu den dort angebotenen Varianten der traditionellen Massenmedien Fernsehen, Hörfunk und Zeitung. Beim Internet kann man noch einmal unterscheiden nach den verschiedenen Diensten (z. B. Onlinenachrichten, Blogs, Wikis, Computerspiele, soziale Netzwerke, Streams, Podcasts). Auch wird Inhalt zunehmend nicht nur für ein Massenmedium produziert, sondern crossmedial über verschiedene Medien (und Dienste) hinweg. Dadurch rücken die tatsächliche technische Plattform in den Hintergrund und die Inhalte, die Erlebensweisen und die Praktiken in den Vordergrund (d. h., das, was die Rezipienten tun, vgl. Konzept des Kommunikationsmodus, Hasebrink, 2004). Fernsehen wird beispielsweise immer noch über konventionelle Fernsehgeräte empfangen; immer mehr Nutzer sehen jedoch auch auf ihrem Computer fern, über eine TV-Karte oder nutzen gezielt Sendungen, die sie auf den Webseiten der Fernsehsender vorfinden. Fernsehen bedeutet dann nicht, dass man den Fernseher anschaltet, sondern dass man den Dienst Fernsehen in Anspruch nimmt, egal, ob über ein konventionelles Fernsehgerät, den Computer oder das Mobiltelefon.
Es wäre allerdings falsch zu sagen, dass das technische Medium keine Rolle mehr spielt. Die Tätigkeit (z. B. das Sehen eines Fernsehprogramms oder Lesen eines Nachrichtenartikels) mag im Kern über Medien hinweg die gleiche sein; die technischen Möglichkeiten jedoch erlauben auch andere Nutzungsweisen (z. B. erlaubt ein Digitalrecorder zeitversetztes Fernsehen) und andere Erlebensweisen (z. B. ermöglicht ein großer Bildschirm ein intensiveres Vertiefen in einen Film als ein Smartphone-Display). Umgekehrt regen auch veränderte Nutzungsweisen die Entstehung neuer Angebote und technischer Möglichkeiten an (z. B. richten viele Fernsehsender wegen der Beliebtheit sozialer Netzwerke Angebote für die eigenen Produkte ein).
Konvergenz hat auch zur Folge, dass sich die typische massenmediale Kommunikationssituation auflöst. Massenkommunikation und Individualkommunikation finden nun im gleichen Medium statt; die grundlegenden Akte des Konsums können deutlich stärker variieren als früher (vgl. Couldry, 2011, S. 219). Eine der Kernveränderungen, die die heutige Medienlandschaft erfahren hat, ist die unkomplizierte Möglichkeit für den nicht-professionell medienproduzierenden Menschen, eigene Inhalte ins Netz zu stellen und bestehende durch eigene Verknüpfungen zu vernetzen (vgl. Carpentier, 2011b; Engesser, 2013; Livingstone, 2012). Dies sorgt für eine Auflösung der traditionellen Rollen von Kommunikator und Rezipient, insbesondere durch die Aufhebung der Einseitigkeit und Linearität, die noch in Maletzkes (1963) Definition von Massenkommunikation zentral war. Die Implikationen für den Blick auf Information, Gemeinschaft und vor allem die Machtverhältnisse zwischen Laienproduzenten und professionellen Medienproduzenten, ja für Öffentlichkeit insgesamt, sind enorm – von der Audience Autonomy als Kontrolle der Nutzer über den eigenen Medienkonsum (vgl. Napoli, 2011, S. 8 ff.) bis hin zu einer neuen, stärkeren, von unten geformten Öffentlichkeit (vgl. Carpentier, 2011a; Dahlgren, 2011).
1.3.2 Publikum und Als-Publikum-Agieren
Die massenkommunikative Situation, in der viele Menschen mit den gleichen, zentral und professionell produzierten Inhalten erreicht werden können, wird also ergänzt von einer Situation, in der Inhalte dezentral produziert und unter Gleichgestellten verbreitet werden (vgl. Ridell, 2012, S. 19). Menschen können dabei zugleich Rezipienten und Produzenten sein. Dies hat dazu geführt, dass bisweilen das Publikum als tot proklamiert wurde (vgl. Bruns, 2008, S. 254), und andere Termini für Rollenbeschreibungen vorgeschlagen wurden, etwa Nutzer (user), oder Produser (als Wortneuschöpfung zwischen Producer und User, vgl. Bruns, 2008).
Die neue Terminologie hat jedoch auch ihre Schwächen: Livingstone (2012) legt dar, dass User im Gegensatz zu Publikum keinen Bezug mehr zur sinngenerierenden Tätigkeit des Publikums hat: Lesen, Sehen und Hören von Text und Bildern muss im Gebrauch durch den Rezipienten in der Bedeutung entschlüsselt werden. Nutzen hingegen kann man auch Waschmaschinen, Bohrer und Autos – hier steht keine sinngenerierende Tätigkeit im Vordergrund. Zudem, so Livingstone, wird das Publikum beim Ersatz durch User individualisiert, so dass die Gemeinsamkeit, der kollektive und öffentliche Charakter verloren gehen (vgl. Livingstone, 2012). Der Begriff des Publikums ist immer noch funktional und notwendig. Die Forderung, ihn zu ersetzen, ist von einer Überschätzung der Onlinemedien getragen: Zum einen tragen auch bei partizipativen Online-Medien längst nicht alle Menschen zur aktiven Contentproduktion bei – die klassischen Publikumsaktivitäten Lesen, Sehen und Hören sind auch hier dominant (vgl. Carpentier, 2011b). Zum anderen sind nach wie vor die traditionellen Massenmedien ein wichtiger Bestandteil im Medienrepertoire von Menschen: Das Radio wird derzeit im Durchschnitt 199 Minuten pro Tag gehört (vgl. Rühle 2014) und das Fernsehen 221 Minuten pro Tag gesehen (vgl. Zubayr & Gerhard, 2014).
Auch die hybride Kategorie des Produser ist trotz einer oberflächlichen Plausibilität problematisch: Sie lässt die Unterschiede zwischen den beiden Tätigkeiten Nutzung und Produktion verschwimmen – Tätigkeiten, die natürlich immer noch getrennt ablaufen und die sich fundamental voneinander unterscheiden. Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma ist es, die Tätigkeit und nicht die Rolle zu betonen. Ein Mensch gehört nicht beständig zum Publikum, sondern nur dann, wenn er oder sie als Publikum agiert. Fiske (1992) hat lange vor der Existenz des Web 2.0 vorgeschlagen, Abstand vom Substantiv »Audience« zu nehmen und stattdessen das Verb »to audience« (als Publikum agieren) zu verwenden. Der Modus des Audiencing besteht demnach in der Auseinandersetzung mit bereits produzierten Materialien, eines kulturellen Produktes oder einer Medienrepräsentation; der Modus des Producing besteht darin, diese Materialien herzustellen (vgl. Ridell, 2012, S. 20).
Ridell