Tatort Ostsee. Harald Jacobsen

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Tatort Ostsee - Harald Jacobsen

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Ruhe vor dem Sturm, dachte er. In ein paar Stunden würde in der Bucht die Hölle los sein. Seit ein paar Jahren arbeitete Olli in den Sommermonaten als Kite- und Surflehrer für Hanjo. Schon als kleiner Junge hatte er jede freie Minute hier verbracht. Heute wünschte er sich zum ersten Mal weit weg. Der Kaffee schmeckte bitter, doch Olli zwang sich, ihn trotzdem zu trinken. Wie sollte er den Tag durchstehen? Sein Leben hatte sich über Nacht geändert. Er fühlte sich genauso elend, wie vor vielen Jahren. Damals war er am Ende gewesen und seine erste Liebe tot.

      Stefan zündete sich die nächste Zigarette an. Sein Hals kratzte bereits. Sophie machte ihn aggressiv. Als er Tina damals kennengelernt hatte, hatte er sich wirklich bemüht, zu Sophie ein freundschaftliches Verhältnis aufzubauen. Doch diese arrogante Ziege hatte ihn immer von oben herab behandelt. Sophie war einfach oberflächlich und karrieregeil. Sie hatte ja nicht mal davor zurückgeschreckt, als Polizeireporterin zu arbeiten. Stefan hasste diese Blutsauger, die sich mit ihren Kameras auf Unfallopfer, Zeugen und Leichen stürzten. Sie waren wie Aasgeier. Jede Katastrophe machte sie glücklich und satt. Während er versuchte, das Böse zu bekämpfen, hofften sie auf eine fette Story. Je grausamer das Verbrechen, desto größer die Schlagzeile. Stefan drückte die halb gerauchte Zigarette im vollen Aschenbecher aus. Mehrere Kippen fielen dabei auf den Boden. Auch wenn Sophie schon lange nicht mehr in diesem Metier arbeitete, blieb sie in seinen Augen eine Leichenfledderin. Sie hatte den Opfern das Letzte genommen, die Ehre. War er ungerecht? Seine Frau wirkte so glücklich über den Besuch. Sophie war nun einmal ihre Freundin und Tina hatte ein bisschen Abwechslung bitter nötig. Aber musste Sophie gleich zwei Wochen bleiben? Sonst residierte sie doch lieber in Luxushotels. Seine Frau hatte ihn eindringlich gebeten, keinen Streit vom Zaun zu brechen. Stefan seufzte. Er würde das Beste aus der Situation machen. Vielleicht war er einfach zu empfindlich. Die Hauptsache war doch, dass er das Wochenende mit seinen Kindern verbringen würde. In dieser Sekunde klingelte sein privates Handy. Stefan nahm das Gespräch an. »Hey, Süße! Ich bin gleich bei euch!«

      »Süße? Finde ich wirklich nett, aber ich muss dich da enttäuschen. Ich bin es nur, die lästige Sophie.«

      »Ist was mit Tina oder den Kindern?« Plötzlich wurde ihm heiß und kalt vor Angst. Dass Sophie in freundschaftlicher Absicht anrief, war ausgeschlossen.

      »Nein, alles in Ordnung mit deiner Bande! Hör zu! Ich stehe hier am Strand vor einer Leiche. Pelle hat sie gefunden.«

      Stefan entspannte sich. Aber was erzählte die Verrückte da? »Eine Leiche? Bist du sicher?«

      »Ob ich sicher bin?«, fragte Sophie gereizt. »Ich stehe einen Meter vor ihr! Sie ist um die 25 und sie war bestimmt mal sehr hübsch.«

      Sie nervte ihn mit ihrem oberschlauen Getue. Er wurde regelrecht wütend. »Ach ja! Die Polizeireporterin hat mal wieder alles unter Kontrolle! Schon Fotos gemacht? Wie lautet denn die Schlagzeile?«

      »Mensch, hör auf mit den alten Geschichten. Das ist ja lächerlich! Ich stehe vor einer Leiche, kapiert! Was soll ich jetzt machen? 110 anrufen? Oder kommst du selbst?«

      »Wo?«, fragte er etwas ruhiger.

      Sophie klang freundlicher. »In Gold.«

      »Bleib einfach da stehen! Ich bin spätestens in 15 Minuten da. Und fass ja nichts an!«

      »Nein? Gut, dass du mir das sagst! Mann! Bring deinen Arsch hierher, ich hab ein mulmiges Gefühl. Irgendetwas stimmt da nicht.«

      Stefan fluchte laut. Sophie hätte vollkommen ausgereicht, um ihm sein Wochenende zu verderben. Musste sie auch noch über eine Leiche stolpern? Er atmete tief durch und wählte die Nummer der Kollegen auf Fehmarn.

      »Polizeiwache Burg. Larrson am Apparat.«

      »Broder, ich bins, Stefan Sperber.«

      »Mensch! Schön, dass du dich mal meldest. Auch wenn es noch verdammt früh ist.«

      »Wetten, du bist gleich anderer Ansicht? In Gold liegt angeblich eine Leiche!«

      Stefan feuerte sein Handy auf den Beifahrersitz und schlug heftig gegen das Lenkrad. Dann bog er ab und fuhr auf der kleinen Straße nach Gold. Mulmiges Gefühl? Lächerlich! Sophie witterte nur eine Story. Sie konnte es wohl doch nicht lassen. Ein Hund, der Blut einmal geleckt hatte, würde immer wieder jagen. Hunde durfte man aber zumindest erschießen.

      Ben hörte sein eigenes Herz klopfen. Luftblasen stiegen an die Oberfläche. Ihr langes Haar schwebte im Wasser wie Seegras und umrahmte ihr angstverzerrtes Gesicht. Er konnte sehen, dass sie schrie. Er wollte ihr helfen, doch er kam nicht an sie heran. Algen hatten seine Füße gefesselt. So sehr er auch strampelte, er konnte sich nicht befreien.

      Ben schreckte hoch. Er war verschwitzt und seine kinnlangen Locken klebten ihm im Gesicht. Er hatte nur geträumt. In Wirklichkeit lag er auf der Matratze in seinem Bus. Seine Beine hatten sich in einem Sarong verfangen. Die Algen, dachte er. Er befreite sich aus dem bunten Tuch und feuerte es wütend in die Ecke. Er schob die Seitenschiebetür seines klapprigen Ford Transit zur Seite, um frische Luft hereinzulassen. In der Nacht waren noch mehr Busse und Wohnmobile gekommen. Die Wiese sah aus wie ein Campingplatz. Bei diesem wunderbaren Wetter und dem konstanten Wind war das ja auch kein Wunder. An den Wochenenden war immer die Hölle los. Es erinnerte ihn an sein anderes Leben. An seine Zeit in Thailand. Natürlich war auf Phuket alles viel multikultureller und spannender gewesen. Seine Schüler kamen aus allen Teilen der Welt. Zum Sonnenuntergang hatte man sich am Strand getroffen und ein paar Bier gezischt. Zumindest, bis er Lamai kennengelernt hatte. Sie hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatten jede freie Minute zusammen verbracht. Schon nach wenigen Wochen war ihm klar, dass er nie mehr ohne sie sein wollte. Sie war sein Leben. Bis der Tsunami alles änderte. Etwas von ihm war mit ihr gestorben. Ohne sie wollte er keine Sekunde länger bleiben. Er war nach Bangkok geflogen und hatte vier Wochen lang seine Ersparnisse versoffen und sich mit Beruhigungspillen zugedröhnt. Danach blieb nur noch eine Lösung. Er musste zurück nach Hause. Die erste Zeit hatte er in seinem alten Kinderzimmer bei seinen Eltern gelebt. Seine Mutter war unendlich glücklich gewesen, doch er hatte ihre übertriebene Fürsorge nicht mehr ausgehalten. Sein alter Kumpel Olli war seine Rettung gewesen. Olli war auf der Suche nach einem zweiten Surflehrer für die Hochsaison. Er hatte das Angebot dankbar angenommen. Er war billig an den alten Transit gekommen und kurzerhand auf den Parkplatz gezogen. Ben atmete tief durch und versuchte, die Gedanken an Phuket zu verdrängen. Er schlüpfte in eine alte Armeehose, griff seine Zahnbürste und knallte die Schiebetür von außen zu. Er sperrte nie ab. Das war das Gute an seinem Zigeunerleben. Er besaß nichts, was sich zu stehlen gelohnt hätte. Die wenigen persönlichen Sachen, an denen sein Herz hing, waren für jeden anderen ohne Wert. Wenn er wollte, konnte er alles, was er brauchte, in zwei Minuten in eine Tasche packen und abhauen. Ben ging zu Hanjos Haus, in dessen Untergeschoss auch das Bistro war. Es würde ein heißer Tag werden und er würde genug zu tun haben, um sich abzulenken. Ben schloss die Hintertür auf und ging zu dem Badezimmer hinter der Restaurantküche. Das Bad war eigentlich für das Personal gedacht, doch die wenigen Aushilfskräfte, die in der Hochsaison stundenweise kamen, lebten auf der Insel und brauchten es nicht. Hanjo hatte ihm angeboten, es zu benutzen. Durch den hinteren Eingang konnte er es jederzeit betreten, ohne Hanjo zu stören oder durch das Bistro laufen zu müssen. Ben drehte das Wasser auf und versuchte die Erinnerungen für einen Moment wegzuspülen. Vergessen würde er die grauenhaften Bilder nie. Ben wusch sich das Shampoo aus den Haaren und überlegte, was er nun machen sollte. Normalerweise würde er zu Olli gehen, um mit ihm bei einem Becher Kaffee den Unterrichtsplan für den Tag zu bequatschen. Doch das war jetzt unmöglich. Er konnte Olli nicht gegenübertreten, nicht unter vier Augen. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Ihm hatte es rein gar nichts bedeutet. Er hatte geglaubt, sie seien sich einig, sie hätte verstanden. Sie waren beide nicht nüchtern gewesen und sie waren erwachsen. Es ging doch nur um ein bisschen

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