Tatort Ostsee. Harald Jacobsen
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Sophie atmete tief durch. Jetzt bloß nicht weinen! Dieser neue Mensch hatte mit ihrem Schicksal rein gar nichts zu tun. Der kleine Finn war ein Wunder und als solches sollte sie ihn auch betrachten. Sie musste endlich aufhören, sich selber leidzutun. In Bezug auf Felix hatte sie doch auch die Flucht nach vorn angetreten.
»Alles in Ordnung?«, fragte Tina besorgt.
Sophie schluckte kurz und lächelte sie an. »Aber sicher! Es ist nur so überwältigend. Er ist so winzig und trotzdem ist alles dran.«
»So winzig?«, Tina lachte. »Finn war noch nie winzig. 4300 Gramm und 55 Zentimeter! Bei seiner Geburt dachte ich, ich krieg ein Elefantenkalb.«
Tina sah auf die Uhr und sprang auf. »Mein Gott, wie die Zeit vergeht. Sag mal, ist es okay für dich, wenn ich Finn bei dir lasse und schnell die Nudeln warm mache?«
»Na klar! Wir werden uns schon vertragen.«
Finn hatte die Augen geschlossen und schmatzte leise. Seine winzige Hand hielt ihren Zeigefinger fest umschlossen. Aus der Küche hörte sie Tina mit den Töpfen herumklappern. Sie hatte Tina immer für verrückt gehalten Knall auf Fall aus der Modelbranche auszusteigen, obwohl es für sie fantastisch lief. Und alles, um einem Polizisten nach Lübeck zu folgen. Nun musste sie zugeben, dass Tina es richtig gemacht hatte. Sie war glücklich und zufrieden. Ihre Ehe mit Stefan schien noch immer zu funktionieren. Den jüngsten Beweis ihrer Liebe hielt sie schließlich gerade im Arm.
10 Minuten später kam Tina zurück und stellte zwei Teller Spaghetti auf den Tisch. »Wie ich sehe, seid ihr bestens klargekommen. Na, dann gib ihn mal wieder her.« Tina legte den Kleinen in die Babyschale und rief die Kinder. Mit Pelle im Schlepptau stürmten sie auf die Terrasse. Mit großem Appetit und ohne sich zu streiten, aßen sie ihre Teller leer.
»Ihr Mäuse, es wird langsam Zeit. Sagt Sophie gute Nacht und dann gehen wir Zähne putzen.«
Obwohl die Kinder todmüde sein mussten, begannen sie zu protestieren.
»Kann Pelle nicht mit nach oben kommen?« Antonia sah sie mit großen Augen an.
»Er kann mit in meinem Bett schlafen.« Paul nickte aufgeregt.
»Nein, ihr Süßen. Ihr schlaft jetzt ganz schnell ein und morgen könnt ihr ihn dann wecken.«
Antonia seufzte enttäuscht, folgte dann aber ihrer Mama und ihren Brüdern. Sophie verschwand in der Küche. Als sie das Butterhähnchen sah, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Schon während ihrer gemeinsamen WG-Zeit war dieses Gericht immer ein Highlight gewesen. Sophie dachte gerne daran zurück.
»So, die Bande ist im Bett! So sehr ich meine Kinder liebe, nach einem langen Tag bin ich froh, wenn sie alle in der Falle sind und ich mal ein paar Stunden für mich habe.« Tina warf einen Blick in den Backofen. »Ich glaube, es ist bald fertig. Inzwischen könntest du mir von der Geschichte mit Felix erzählen.«
»Ach Tina, er ist ein verdammtes Arschloch! Ich bin noch nie so enttäuscht und verletzt worden.«
»Du wusstest auch nichts von der unehelichen Tochter? Er hat nicht mal dir was gesagt?«
»Natürlich wusste ich davon. Ich war die Quelle für den Artikel.«
»Du warst was? Mein Gott, Sophie! Dass die Story Gift für seine Karriere ist, das weiß ich. Was ist denn passiert? Ihr seid mit eurem, tja, ich sag mal Arrangement doch beide ganz zufrieden gewesen?«
»Er war es!«, entgegnete Sophie fast trotzig. »Ich aber ab einem bestimmten Punkt nicht mehr. Vielleicht wollte ich mehr sein als die ständige Geliebte? Vielleicht wollte ich auch eine Familie?« Sie schloss kurz die Augen, um sich zu beruhigen. »Tja, und er wollte das nicht. Das habe ich jetzt auch kapiert. Er hat mich hingehalten und mir das Blaue vom Himmel versprochen. Lass uns heute nicht mehr davon reden. Ich brauch erst mal ein paar Tage Abstand.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber eins weiß ich ganz sicher. Du bist eine schöne junge Frau. Wozu brauchst du den alten Sack?« Tina lächelte sie aufmunternd an. »Bestimmt kommt bald der Richtige, und wer weiß? Vielleicht wollt ihr dann tatsächlich irgendwann ein Baby.«
»Sicher«, flüsterte Sophie. Aber es würde ein anderes Baby sein.
3
Samstag
Stefan fuhr übermüdet über die Autobahn. Er wollte nur noch nach Hause und die Ereignisse der letzten Nacht vergessen. Er steckte sich eine Zigarette an, um sich wach zu halten. Sein Audi war ein rollender Aschenbecher. Auch die Wunderbäume, die am Rückspiegel baumelten, konnten gegen den Gestank nichts ausrichten. Stefan bekam einen Schreck, als er sein Spiegelbild sah. Sein Haar brauchte einen Schnitt und er musste sich unbedingt rasieren. Sein Gesicht war bleich und sein Hemd dreckig. Unter den Achseln hatten sich Schwitzflecken gebildet. Er hatte das Aussehen eines Penners und roch auch so. Er musste dringend unter die Dusche. Die letzen 24 Stunden waren ein Albtraum gewesen. Sie waren zu einem Einsatz in Moisling gerufen worden. Eine junge Frau hatte auf dem Dach einer Mietskaserne gestanden und gedroht, ihr Baby hinunterzuwerfen. Sie hatte es in eine Decke gewickelt und es an ihre Brust gedrückt. Er hatte den besten Psychologen kommen lassen. Der hatte vom Balkon des obersten Stockwerks zwei Stunden auf die Frau eingeredet, doch sie wollte niemanden an sich heranlassen. Die Feuerwehr hatte in der Zwischenzeit ein Sprungtuch aufgespannt. Stefan hatte entsetzliche Angst gehabt. Die Sache war ihm unter die Haut gegangen. Sein Kleinster war genauso alt wie das Baby auf dem Dach. Immer wieder hatte er Finns Gesicht gesehen. Ihm war fast egal gewesen, ob die Irre sich umbrachte, aber dem unschuldigen Baby durfte nichts geschehen. Plötzlich hatte die Frau hysterisch gelacht und den Säugling ohne Vorwarnung hinuntergeworfen. Die Feuerwehrmänner hatten das Tuch gespannt und das Bündel aufgefangen. Wie bei Finns Geburt hatte er auf den ersten Schrei gewartet, vergeblich. Panisch hatte er die Decke aufgeschlagen und sofort die Augen geschlossen. Er hatte schon viel gesehen, seit er bei der Mordkommission war, aber das war mehr, als er ertragen konnte. Das Baby musste schon seit Tagen tot sein. Als die Frau vom Dach gesprungen war, hatte er gehofft, dass sie das Sprungtuch verfehlen und auf das Pflaster klatschen würde. Sie hatten sie die ganze Nacht verhört. Stefan hatte drei Schachteln Zigaretten geraucht und unzählige Tassen Kaffee getrunken. Jetzt wollte er nur noch zu seiner Familie. Er wollte seine Frau küssen, mit den Kindern spielen und seinen Jüngsten in den Arm nehmen.
Er liebte Tina noch immer wie am ersten Tag. Er sollte es ihr öfter sagen und zeigen. Vielleicht konnten sie sich an diesem Wochenende ein bisschen Zeit füreinander nehmen. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Wütend feuerte Stefan die Kippe aus dem Fenster. Ihre Hoheit Klatschqueen Sophie würde auch da sein. Verdammt!
Sophie wusste nicht, was sie geweckt hatte, das Gebrüll von Finn oder die kalte Nase von Pelle, die ihren Arm stupste. Sie hatte wunderbar geschlafen und zum ersten Mal seit der Trennung nicht von Felix geträumt. Sophie reckte sich und öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die Blümchentapete und die bestickten Vorhänge. »Guten Morgen, Bullerbü!«, lachte sie leise. Der Labrador versuchte, die Situation für sich auszunutzen. Mit einem Satz war er im Bett und leckte ihr Gesicht ab.