Öffentliches Wirtschaftsrecht. Stefan Storr
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Öffentliches Wirtschaftsrecht - Stefan Storr страница 41
Beispielsweise maß der EuGH eine staatliche Werbekampagne als Maßnahme gleicher Wirkung an den Grundfreiheiten (▸ Klausurenkurs Fall Nr 3)[102]. Äußerungen eines Beamten sind dem Staat zurechenbar, wenn die Empfänger dieser Äußerungen den Umständen nach annehmen dürfen, dass sich der Beamte mit Amtsautorität äußert[103].
60
Angesichts seines weiten Eingriffsbegriffes hat sich der EuGH mit der sog. Keck-Rechtsprechung zunächst bei der Warenverkehrsfreiheit um eine Begrenzung des Schutzbereiches bemüht. Danach fallen „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ dann nicht in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit, wenn sie für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben und außerdem den Absatz in- und ausländischer Waren in rechtlich wie tatsächlich gleicher Weise berühren[104].
Eine klare Definition existiert nicht, wohl aber eine umfangreiche Kasuistik. Neben den wettbewerbsrechtlichen Vorschriften[105] sind als öffentlichrechtliche Vorschriften das Ladenöffnungsrecht und Sonntagsverkaufsverbot zu nennen (s. unten Rn 82); Entsprechendes gilt für Verkaufsbeschränkungen, zB die Apothekenpflichtigkeit bestimmter Arzneimittel[106] sowie produktbezogene Werbeverbote, etwa für alkoholische Getränke[107] oder Arzneimittel. Inwieweit sich diese zur Warenverkehrsfreiheit entwickelten Grundsätze auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit übertragen lassen, wird kontrovers beurteilt. Obschon der EuGH dies nur für die Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich bejaht hat[108], dürfte sich der Grundsatz auf die anderen Grundfreiheiten anwenden lassen, soweit es sich um nichtdiskriminierende und marktverhaltensbezogene Vorschriften handelt[109]. Allerdings steht die Keck-Rechtsprechung seit ihren Anfängen in der Kritik, auch durch einzelne Generalanwälte[110], ohne dass der EuGH sie trotz scheinbarer Tendenzen in dieser Richtung bisher aufgegeben hätte. Auf der Grundlage des „Drei-Stufen-Tests“, die nach dem Vorbild des Kartellrechts nach der Spürbarkeit von Handelsbeeinträchtigungen fragt, hat sich die Lösung nicht unbedingt vereinfacht[111]. Eine erhebliche Einschränkung ihres Anwendungsbereichs folgt allerdings aus der Erstreckung des Sekundärrechts auf Inlandssachverhalte, wie sie der EuGH annimmt. Damit gerät sogar das einzelhandelsbezogene Bauplanungsrecht in den Anwendungsbereich der DienstleistungsRL[112].
c) Die Rechtfertigung von Beschränkungen
61
Liegt eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten vor, so ist zunächst zu prüfen, inwieweit diese durch die geschriebenen Schrankenregelungen des AEUV gerechtfertigt werden kann. Hierzu gehören Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit. Sie spielen aus verschiedenen Gründen im öffentlichen Wirtschaftsrecht kaum eine Rolle. Die öffentliche Sicherheit umfasst den Schutz vor Bedrohungen und Gefahren für die Existenz des Staates in seinen Grundlagen und Einrichtungen, greift also zB im Zusammenhang mit der Sicherstellung der Energieversorgung[113], nicht aber bei typischen Maßnahmen der Wirtschaftsaufsicht. Außerdem sind die entsprechenden Bestimmungen grundsätzlich eng auszulegen. Die öffentliche Ordnung wird deswegen nicht als weiter ordre public-Vorbehalt verstanden, sondern für solche Gründe, die „herkömmlich als wesentliches Interesse des Staates“ angesehen werden; sie ist nur dann betroffen, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt[114].
Der unionsrechtliche Begriff[115] verlangt die Abwehr konkreter, von dem Betroffenen ausgehender Gefahren[116]. So ließe sich zB die Unterbindung der Gewerbeausübung auf der Grundlage einer Verurteilung wegen Betäubungsmitteldelikten auf die öffentliche Ordnung stützen[117]. Da Anzeige- und Genehmigungserfordernisse wie in Fall 3b (Rn 45) aber lediglich der Abwehr abstrakter Gefahren dienen, lassen sie sich nicht auf die öffentliche Ordnung stützen. Ferner muss ein Mitgliedstaat entsprechende Sachverhalte von Inländern ebenfalls mit empfindlichen Sanktionen ahnden, so dass Sondervorschriften für Ausländer im Ergebnis ausscheiden. Auf diese Rechtfertigungsgründe lassen sich aber auch unterschiedslos wirkende Maßnahmen nur ausnahmsweise stützen (s. aber Rn 50 zur Brennerblockade und Rn 68 zum deutschen Verbot von Laserdromen).
62
Um den Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten nicht zu stark einzuschränken, hat der EuGH die strengen geschriebenen Rechtfertigungsgründe durch die flexibleren „zwingenden Erfordernisse“ als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe ergänzt[118]. Ausgangspunkt war die Cassis-Entscheidung[119]. In der Rechtssache Gebhard hat der EuGH diesen Prüfungsaufbau für die Einschränkungen von Grundfreiheiten zusammengefasst[120]:
– | Die Maßnahme muss in nichtdiskriminierender Weise angewendet werden, es darf sich also weder um eine offene noch eine versteckte Diskriminierung handeln. |
– | Für eine Maßnahme gleicher Wirkung müssen zwingende Gründe des Allgemeinwohls vorliegen, was immer dann zu bejahen ist, wenn die Maßnahme unionsrechtlich anerkannten Belangen zu dienen bestimmt ist (sog. Cassis-Formel). |
– | Die Maßnahme muss geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten. |
– | Die Maßnahme darf nicht über das hinausgehen, was zur Zweckerreichung erforderlich ist. |
63
Bereits die Formulierung der Cassis-Entscheidung ließ erkennen, dass es keinen abschließenden Katalog der Rechtfertigungsgründe gibt. Sie speisen sich im Ergebnis aus drei Quellen: Zum einen beziehen sie ihre Legitimation aus der Anerkennung in den Unionspolitiken und dem sonstigen Primärrecht, zum zweiten aus der Anerkennung im Sekundärrecht und außerdem in gewissem Umfang aus dem nationalen Recht (s. auch Art. 6 Abs. 3 EUV zur Rücksicht auf die besonderen Traditionen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen). Mit Ausnahme wirtschaftlich protektionistischer Zielsetzungen können daher sehr unterschiedliche Allgemeinwohlbelange verfolgt werden; selbst die Bekämpfung der missbräuchlichen Ausnutzung von Grundfreiheiten kann als Rechtfertigungsgrund genügen[121].
Primärrechtlich anerkannte Belange, die einen Eingriff in die Grundfreiheiten rechtfertigen können, sind daher beispielsweise der Verbraucherschutz (Art. 12, 169 AEUV) und der Umweltschutz (vgl Art. 11, 114 Abs. 4 AEUV)[122], Ziele der Kulturpolitik (Art. 167 AEUV)[123] und die Gewährleistung der Daseinsvorsorge[124]. Der EuGH hat insbes Art. 106 Abs. 2 AEUV auch bei der Prüfung der Grundfreiheiten als Rechtfertigungsgrund herangezogen[125]. Auch sekundärrechtlich anerkannte Gemeinwohlbelange können als Rechtfertigungsgrund fungieren[126]. Vor allem dort, wo sekundärrechtliche Regelungen fehlen[127], hat der EuGH aber auch auf nationale Beweggründe abgestellt, etwa die Bekämpfung des Glücksspiels und die dahinter stehenden sittlichen, religiösen und kulturellen Erwägungen des einzelnen Mitgliedstaats (ausf dazu unten Rn 67 ff). Allerdings können nur solche Gründe Beschränkungen rechtfertigen, als den europäischen Grundrechten Genüge getan wird[128].
64