Öffentliches Wirtschaftsrecht. Stefan Storr
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Eine entscheidende Funktion der die Grundfreiheiten konkretisierenden Richtlinien, insbesondere der Berufsanerkennungs- und DienstleistungsRL, aber auch der neuen VerhältnismäßigkeitsRL (s. schon Rn 38) besteht zunächst in der Systematisierung dieser Anforderungen. Unverhältnismäßige Maßnahmen werden zu „schwarzen Listen“ zusammengefasst, es wird aber auch das Verhältnis zwischen präventiven und nachträglichen Kontrollen abweichend von den gewerberechtlichen Maßstäben konkretisiert; Art. 9 Abs. 1 lit c unterwirft etwa die präventive Zuverlässigkeitsprüfung einem erheblichen Rechtfertigungsdruck[132]. Kritisch sieht der EuGH insbesondere Werbeverbote[133] und staatliche Preisregulierungen[134]. Es ist außerdem geklärt, dass die Anforderungen dieser Richtlinien nicht an den Grundfreiheiten gemessen werden können, der Unionsgesetzgeber also mit anderen Worten berechtigt ist, die mitgliedstaatlichen Spielräume stärker zu beschneiden als dies am Maßstab der Grundfreiheiten der Fall ist[135]. Damit könnten sich die primär- und sekundärrechtlichen Maßstäbe auseinander entwickeln; allerdings kann man dies auch als „judicial self restraint“ interpretieren: der EuGH hält sich aus Respekt vor den Entscheidungsspielräumen der Mitgliedstaaten (zu diesen näher Rn 67) im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stärker zurück, als dies der EU-Gesetzgeber zu machen hat.
d) Das Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten (Konkurrenzen)
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Außer für das Verhältnis von Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit (s. dazu Rn 72) gibt es für das Verhältnis der Grundfreiheiten zueinander keine feste Regel. Dies gilt auch für das Verhältnis von Kapitalverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit[136], obwohl dies die Formulierung des Art. 57 Abs. 2 AEUV nahelegen könnte. Soweit mehrere Grundfreiheiten einschlägig, aber die Einzelelemente des zu prüfenden Sachverhaltes zu einem untrennbaren Ganzen verbunden sind, stellt der EuGH auf den Schwerpunkt ab. Lassen sich die beiden Teile voneinander abschichten, werden die einzelnen Teile getrennt geprüft. Angesichts der starken Konvergenzen zwischen den Prüfungsmaßstäben (s. bereits Rn 57 ff) hat dies in den meisten Fällen kaum Konsequenzen für das Ergebnis. Bedeutsam wird es freilich wegen der Beschränkung der aktiven Dienstleistungsfreiheit auf Unionsbürger und vor allem wegen der Erstreckung der Kapitalverkehrsfreiheit auf Drittstaatssachverhalte (s. zur Abgrenzung der Kapitalverkehrsfreiheit von den anderen Grundfreiheiten Rn 87 f). Im Anwendungsbereich des Sekundärrechts, insbesondere bei der DienstleistungsRL, die der EuGH ja auch auf reine Inlandssachverhalte erstreckt (s. schon Rn 53), geht der EuGH allerdings von deren Anwendbarkeit auch dann aus, wenn der Schwerpunkt eigentlich bei einer anderen Grundfreiheit liegt[137].
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In Fall 5 (Rn 47) ist mit der Lieferung der Ausrüstung sowohl die Dienstleistungs- wie die Warenverkehrsfreiheit betroffen. Da die Einfuhr der Waren nur eine zwangsläufige Folge der von der P erbrachten Dienstleistung ist, tritt bei einem Franchisevertrag die Warenverkehrsfreiheit gegenüber der Dienstleistungsfreiheit als zweitrangig zurück[138]. Entsprechend dient auch die Versendung von Werbematerial oder Unterlagen durch einen ausländischen Dienstleistungsanbieter der Durchführung einer Dienstleistung und wird ausschließlich anhand der Dienstleistungsfreiheit geprüft[139]. Die bloße Einfuhr von Geld- oder Spielautomaten wird demgegenüber nur an der Warenverkehrsfreiheit geprüft, selbst wenn die Einfuhr zum Zweck der Erbringung einer Dienstleistung geschieht[140]. Andererseits prüft der EuGH eine nationale Bestimmung nur anhand der Dienstleistungsfreiheit, wenn die Einfuhrbeschränkung sich auf die für eine bestimmte Spielart entwickelte Ausrüstung bezieht und sich so als zwangsläufige Folge des Verbots dieser Spielvariante darstellt[141]. Allgemein sind Bestimmungen, welche den Vertrieb von Waren beschränken, dann an der Warenverkehrsfreiheit zu messen, wenn die Dienstleistung einen untergeordneten Aspekt darstellt[142]. Abweichend von der Schwerpunktformel hat der EuGH im Anwendungsbereich der DienstleistungsRL (auch) den Warenabsatz als Dienstleistung qualifiziert (s Rn 65).
e) Nationale Spielräume und Kohärenzgebot
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Bei der Prüfung aller Grundfreiheiten stellt sich eine Frage, die aus dem nationalen Verfassungsrecht vertraut ist, in Europa aber eine besondere Dimension gewinnt. Es geht darum, inwieweit sozial unerwünschte bzw verbotene Tätigkeiten wie die Veranstaltung von Glücksspielen, die Ausübung der Prostitution oder gewaltverherrlichende Unterhaltungsangebote in den Schutzbereich der Marktfreiheiten einzubeziehen sind oder ihnen jedenfalls öffentliche Interessen bei der Schrankenprüfung entgegengehalten werden können. Entscheidend ist vor allem, wessen Wertmaßstäbe zugrundezulegen sind. So macht es durchaus einen Unterschied, ob man beispielsweise bei Wettveranstaltungen oder der Ausübung der Prostitution auf das Werturteil des konkret betroffenen Mitgliedstaates oder auf unionsweite Maßstäbe abstellt. Letzteres könnte leicht dazu führen, dass nationale Ordnungsvorstellungen nivelliert und durch einen europäischen Minimalkonsens ersetzt werden, da unionsweit einheitliche Rechtsüberzeugungen, die ein Verhalten in sämtlichen Mitgliedstaaten verbieten, jenseits der unproblematischen Fälle von Berufskillern und Drogenkurieren[143] selten gegeben sein werden. Allgemein stellt sich die Frage, inwieweit die Prüfung anhand der Marktfreiheiten Raum für mitgliedstaatliche Besonderheiten und unterschiedliche Rechtsüberzeugungen bietet, auch wenn sie den Gemeinsamen Markt behindern. Dies lässt der EuGH in weitem Umfang zu.
Danach haben die Mitgliedstaaten eine erhebliche Einschätzungsprärogative bei der Beurteilung der Frage, inwieweit bestimmte nationale Regelungen zum Erreichen der Ziele geeignet und erforderlich sind[144]. Aber auch bei der Ausfüllung der unbestimmten Rechtsbegriffe der geschriebenen Rechtfertigungsgründe, vor allem dem Begriff der öffentlichen Ordnung (s. Rn 61) erkennt der EuGH ausdrücklich an, dass „die konkreten Umstände, die möglicherweise die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein“ können und billigt insoweit den innerstaatlichen Behörden einen Beurteilungsspielraum zu[145]. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Sicherheit akzeptierte es der EuGH in einem Fall zur Warenverkehrsfreiheit, dass auch die Sicherstellung der Versorgung mit Erdölerzeugnissen für den Staat ein Ziel der öffentlichen Sicherheit darstellen kann, weil „nicht nur das Funktionieren seiner Wirtschaft, sondern vor allem auch das seiner Einrichtungen und seiner wichtigen öffentlichen Dienste und selbst das Überleben seiner Bevölkerung von ihnen abhängen“[146]. Besondere Bedeutung erlangte das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit im Kontext der Kapitalverkehrsfreiheit; auch dort bleibt nach der Rechtsprechung Raum für die nationalen Ordnungsinteressen (s. unten Rn