Öffentliches Wirtschaftsrecht. Stefan Storr
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Nationale Maßnahmen sind als Beschränkungen iS von Art. 63 Abs. 1 AEUV anzusehen, wenn sie geeignet sind, etwa den Erwerb von Aktien der betreffenden Unternehmen zu verhindern oder zu beschränken oder aber Investoren anderer Mitgliedstaaten davon abzuhalten, in das Kapital dieser Unternehmen zu investieren; es handelt sich auch dann um eine dem Staat zuzurechnende Maßnahme, wenn die Regelungen nicht als gesetzliche Regelung ergehen, sondern von den Gesellschaftsorganen beschlossen wurden[200]. Derartige staatliche Kontrollrechte wurden im Zusammenhang mit der Privatisierung vormals öffentlicher Unternehmen in verschiedenen Mitgliedstaaten eingeführt. Zulässig sind Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit nur aus den in Art. 65 AEUV aufgeführten Gründen, sowie aus der immanenten Schranke des zwingenden Allgemeininteresses und nur soweit keine gemeinschaftliche Harmonisierungsmaßnahme vorliegt, die bereits die zur Gewährleistung des Schutzes dieser Interessen erforderlichen Maßnahmen vorsieht. Nachdem der EuGH schon in einer Entscheidung zur Warenverkehrsfreiheit im Kontext der Erdölversorgung einem Mitgliedstaat die Berufung auf die öffentliche Sicherheit gestattet hatte (s. schon Rn 68), gilt Entsprechendes für die Gasversorgung[201]. Aber auch das Interesse an einem funktionierenden Finanzmarkt[202] und der Versorgung der Bevölkerung mit Telekommunikations- und Postdienstleistungen[203] kann eine Beschränkung rechtfertigen. Damit handelt es sich um die Wirtschaftsbereiche, die von besonderer Bedeutung und gleichzeitig besonderer Sensibilität sind, so dass eine intensivere staatliche Aufsicht bzw „Regulierung“ zulässig ist.
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Im Fall 6 (Rn 48) fällt der Aktienerwerb in den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit; staatliche Sonderrechte, zB die golden shares, sind als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff zu qualifizieren. Insoweit können die Sicherstellung der Versorgung mit Energie, aber auch Telekommunikations- bzw Postdienstleistungen eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit rechtfertigen. Abzustellen ist auf den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund des zwingenden Allgemeininteresses, wenn man den Tatbestand der öffentlichen Sicherheit in Art. 65 Abs. 1 lit. b) AEUV auf die „Bekämpfung rechtswidriger Tätigkeiten, wie der Steuerhinterziehung, der Geldwäsche, des Drogenhandels und des Terrorismus“ beschränkt[204]. Das eigentliche Problem ist allerdings die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Als unverhältnismäßig hat der EuGH starre Prozentgrenzen angesehen, die eine staatliche Intervention zuließen, ohne dass der Mitgliedstaat auch tatsächlich die (konkrete) Gefährdung des Allgemeininteresses dartun musste[205]. Die differenzierte belgische Regelung (Fall 6a) erachtete der EuGH dagegen als verhältnismäßig. Das Widerspruchsrecht bleibt in seiner Eingriffsintensität hinter einem generellen Genehmigungsvorbehalt zurück, ist auf ganz bestimmte, sachlich begründbare Aspekte beschränkt und unterliegt einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle. Entsprechend sah der EuGH ein umfassendes Verbot der Privatisierung von Gas- und Stromverteilernetzen als gerechtfertigte Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit an[206]. Im Bereich der Telekommunikation (Fall 6b) verfolgt bereits das Sekundärrecht mit der Universaldienstverpflichtung das Ziel der Sicherstellung der Versorgung mit Telekommunikationsdienstleistungen (s. näher unten Rn 504). Damit dürfte eine zusätzliche gesellschaftsrechtliche Absicherung schon deswegen unverhältnismäßig sein[207]. Konsequenterweise scheidet daher im Bereich der Automobilindustrie eine entsprechende Regelung von vornherein aus. Dennoch hat der EuGH im VW-Urteil zwar weder den Schutz der Arbeitnehmer noch der Minderheitsaktionäre ausreichen lassen, aber zur Frage nicht abschließend Stellung genommen, ob die Sicherung von Arbeitsplätzen im Interesse des Gemeinwohls einen Rechtfertigungsgrund darstellen könne[208]. Insoweit hat der EuGH auch in diesem Kontext den nationalen Beurteilungsspielraum gewahrt (s. schon oben Rn 67 f), aber dem Mitgliedstaat eine entsprechende Darlegungslast aufgebürdet.
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Gerade weil die Kapitalverkehrsfreiheit auch im Verhältnis zu Drittstaaten gilt, ist in solchen Fällen die Abgrenzung von den anderen Grundfreiheiten von besonderer Bedeutung. Besondere Relevanz erhält diese bei der Tätigkeit von Banken aus Nicht-EU-Staaten. Obwohl Bankgeschäfte, insbes die Vergabe von Krediten, dem Art. 63 AEUV unterfallen (s. näher Rn 84), hat der EuGH seine „Schwerpunktformel“ (s. Rn 65) dahin gehend konkretisiert, dass die Dienstleistungsfreiheit nicht nur solche Tätigkeiten erfasst, die die Bank im Umfeld der eigentlichen Kapitaltransaktion erbringt (insbes die Vermittlungs- und Beratungstätigkeiten)[209], sondern auch die Kreditvergabe als solche. Damit konnte sich nach Ansicht des EuGH die Fidium Finanz AG aus der Schweiz, die über das Internet Konsumentenkredite insbes an Deutsche vergab, gegenüber dem Genehmigungserfordernis des deutschen KWG (s. dazu ausf Rn 546) nicht auf die Kapitalverkehrs-, aber als Bank aus einem Drittstaat eben auch nicht auf die Dienstleistungsfreiheit berufen[210]. Der EuGH bestimmt das Verhältnis abstrakt, dh unabhängig von der Frage, ob in einem konkreten Fall überhaupt beide Marktfreiheiten anwendbar sind.
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Auch im Verhältnis zur Niederlassungsfreiheit ließ der EuGH die Kapitalverkehrsfreiheit vor allem im steuerrechtlichen Kontext zurücktreten[211]. Anders verhält es sich allerdings dann, wenn sich die nachteiligen Auswirkungen auf die Niederlassungsfreiheit als „unmittelbare Folge der … Hindernisse für den freien Kapitalverkehr, mit denen sie untrennbar verbunden sind“[212], darstellen. Daraus folgt im Fall 6 (Rn 48), dass die Vorschriften über golden shares und andere aktienrechtliche Vorschriften zugunsten der öffentlichen Hand nicht an der Niederlassungsfreiheit gemessen werden. Die Warenverkehrsfreiheit wird hinsichtlich der gesetzlichen Zahlungsmittel von der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit verdrängt, während Edelmetalle angesichts der geringen geldpolitischen Bedeutung unter Art. 34 AEUV subsumiert werden[213].
§ 2 Der unions- und verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen › III. Sekundäres und tertiäres Unionsrecht
III. Sekundäres und tertiäres Unionsrecht
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Fall 7:
Spanier S möchte auf dem Mainzer Weihnachtsmarkt traditionelle Gebäck-Spezialitäten anbieten, „Lübecker Marzipan“, „Aachener Printen“, „Meißner Fummel“ und „Nürnberger Lebkuchen“. Sämtliche Produkte werden in Spanien nach original deutschen Rezepturen produziert. Allerdings wird ihm ein Standplatz verweigert. Die Stadt begründet dies mit einer drohenden „Irreführung der Verbraucher“. Wer deutsche Spezialitäten kaufe, könne erwarten, dass diese auch in Deutschland hergestellt worden seien. Dies ergebe sich schon aus der VO (EU) Nr 1151/2012. Sämtliche Spezialitäten seien auf ihrer Grundlage von der Kommission