Öffentliches Wirtschaftsrecht. Stefan Storr
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2. Richtlinien
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Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV ist die Richtlinie für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überlässt diesen aber die Auswahl von Form und Mittel, die sie für die Erreichung des Zieles als geeignet ansehen[237]. Auch im Wirtschaftsrecht wird daher die Richtlinie immer dann eingesetzt, wenn die Besonderheiten des nationalen Rechts möglichst weitgehend gewahrt bleiben sollen. In einigen Fällen wurde aber auch mit dem Instrument der Richtlinie eine weitgehende Harmonisierung erreicht (s. zum Regulierungsrecht Rn 496). Die Umsetzung einer Richtlinie durch die Mitgliedstaaten muss vollständig, genau und innerhalb der in der Richtlinie gesetzten Frist erfolgen. Sie muss es den Betroffenen ermöglichen, von ihren Rechten und Pflichten Kenntnis zu erlangen, um sie vor den nationalen Gerichten geltend machen zu können. Eine bloße innerstaatliche Verwaltungspraxis oder eine Umsetzung durch Verwaltungsvorschriften ohne Außenwirkung gegenüber dem Bürger genügt daher nicht[238]. Für den Fall, dass diese Anforderungen nicht eingehalten werden, hat der EuGH drei Durchsetzungsmechanismen entwickelt: Die unmittelbare Wirkung, die richtlinienkonforme Auslegung und die Staatshaftung[239].
a) Unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen
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Obwohl diese sich ihrem Wortlaut nach nur an die Mitgliedstaaten richten, leitet der EuGH auch aus Richtlinien unmittelbar wirkende Rechte Einzelner gegenüber einem Mitgliedstaat ab (vertikale Wirkung)[240]. Bei fehlender oder fehlerhafter Umsetzung kann sich der Einzelne auf eine konkrete Richtlinienbestimmung berufen, sofern sie „inhaltlich unbedingt und hinreichend genau“ ist. Inhaltlich unbedingt ist eine Bestimmung, wenn sie vorbehaltlos und ohne Bedingung anwendbar ist und keiner weiteren Maßnahme seitens der Mitgliedstaaten oder der Union bedarf. Hinreichend genau ist sie, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet, also rechtlich in sich abgeschlossen ist und als solche von jedem Gericht angewandt werden kann[241]. Liegen die Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendbarkeit vor, haben nicht nur die nationalen Gerichte, sondern auch alle anderen staatlichen Stellen diese trotz möglicherweise entgegenstehenden nationalen Rechts von Amts wegen anzuwenden.
Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit ist außerdem der Ablauf der Umsetzungsfrist. Mögliche Wettbewerbsverzerrungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, die aus einer zeitlich unterschiedlichen, aber fristgemäßen Umsetzung resultieren, sind hinzunehmen[242]. Die unmittelbare Wirkung beschränkt sich allerdings auf das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. Allerdings wird der Begriff der staatlichen Stellen dabei weit verstanden. Der Umstand, dass im Verhältnis zwischen Privaten eine sog. horizontale unmittelbare Richtlinienwirkung ausgeschlossen ist[243], bedeutet allerdings für das öffentliche Recht keineswegs, dass eine (mittelbare) Belastung Dritter ausgeschlossen ist, wenn sich ein Privater auf umwelt- oder wirtschaftsrechtliche Richtlinienbestimmungen beruft (sog. mittelbare Horizontalwirkung)[244].
b) Richtlinienkonforme Auslegung und Anwendung der GRCh
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Das vom EuGH entwickelte Instrument der richtlinienkonformen Auslegung ist fester Bestandteil der Durchsetzungsmechanismen des europäischen Rechts. Danach sind auch unverändert gebliebene Vorschriften des nationalen Rechts „im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen“[245]. Dieses Gebot gilt unabhängig von der Umsetzung ab Inkrafttreten der Richtlinie[246] und betrifft insbes die Generalklauseln. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind alle Träger öffentlicher Gewalt zur Durchsetzung der Ziele einer Richtlinie verpflichtet. Diese Auslegung ist unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den das nationale Recht ihnen einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts vorzunehmen[247]. Grenzen findet die richtlinienkonforme Auslegung auf nationaler Ebene im eindeutig entgegenstehenden Wortlaut eines Gesetzes[248] und unionsrechtlich in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, insbes in den Grundsätzen von Rechtssicherheit und Rückwirkungsverbot[249]. Die richtlinienkonforme Auslegung führt aber auch zu einem Vorrang unionsrechtlicher Maßstäbe vor dem nationalen Verfassungsrecht (s. schon Rn 41 ff).
Zum einen wird durch Richtlinien auch der Anwendungsbereich der GRCh eröffnet. Diese gilt für die Mitgliedstaaten bei der „Durchführung von Unionsrecht“; dazu gehört in jedem Fall[250] das richtliniengeprägte Verwaltungshandeln und damit fast das gesamte öffentliche Wirtschaftsrecht (zu den Konsequenzen für Informationsansprüche Rn 129 ff). Dies begrifft allerdings nicht nur die materiellen Grundrechte, sondern auch die Anforderungen an den effektiven Rechtsschutz. Insoweit wird auch Art. 19 Abs. 4 GG verdrängt durch Art. 47 GRCh, aber auch die „einfachrechtlichen“ Konkretisierungen in den Richtlinien, zB für das Telekommunikationsrecht in Art. 4 Abs. 1 S. 2 RahmenRL. Bereits die Entscheidung zum Verhältnis von effektivem Rechtsschutz und dem Schutz von Geschäftsgeheimnissen hat bestätigt, dass der EuGH diesem Grundsatz herausragende Bedeutung zumisst[251]. Es überzeugte daher nicht, wenn BVerfG und BVerwG in diesem Zusammenhang die zu Art. 19 Abs. 4 GG entwickelten Maßstäbe anlegten[252]; dieser Ansatz ist aber durch die jüngste Rechtsprechung des BVerfG zum Vorrang des Unionsrechts (vgl oben Rn 42 f) wohl überholt[253]. Damit verdrängen jedenfalls im richtliniengeprägten öffentlichen Wirtschafts- und Umweltrecht die europäischen Anforderungen an ein faires (gerichtliches und behördliches) Verfahren die nationalen Standards[254]. Dies betrifft nicht nur Art. 47 GRCh (dazu schon Rn 40), sondern in besonderer Weise auch das Verwaltungsverfahren. Zu den verfahrensrechtlichen Anforderungen der einzelnen Richtlinien tritt zunehmend das „Recht auf gute Verwaltung“ des Art. 41 GRCh (zu den angloamerikanischen Wurzeln schon Rn 18)[255].
3. Vereinbarkeit von Verordnungen und Richtlinien mit dem Primärrecht
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Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 AEUV) wird die Union nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit tätig (vgl ▸ Klausurenkurs Fall Nr 1). Davon zu unterscheiden ist die Frage nach dem Rangverhältnis. Ähnlich wie zwischen Verfassungs- und einfachem Recht ist auch im Unionsrecht der Grundsatz der Normhierarchie anerkannt. Das Primärrecht nimmt die oberste Rangstufe ein,[256] genießt also Vorrang vor dem sekundären Unionsrecht[257]. Nach der Rechtsprechung des EuGH[258] bildet es „Grundlage, Rahmen und Grenze“ der von den Unionsorganen erlassenen Rechtsakte. Insoweit kann auch Sekundärrecht gegen die Grundfreiheiten verstoßen.
Davon zu unterscheiden sind die Konsequenzen für die Prüfung der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht. In der Literatur wird dem (spezielleren) Sekundärrecht Vorrang vor den Grundfreiheiten zugebilligt[259]. Praktische Anwendungsfälle sind zB die Garantie effektiven