Frauenstimmrecht. Brigitte Studer
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Eine Bundesratsbotschaft mit Ambivalenzen
Neun Tage vor der Abstimmung über den Zivilschutz, am 22. Februar 1957, erschien die Botschaft des Bundesrats an die Bundesversammlung über die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts in eidgenössischen Angelegenheiten.86 Erstmals bezog die Schweizer Regierung zugunsten des Frauenstimmrechts Position. Was jahrelanges Lobbying der Frauenverbände nicht zustande gebracht hatte (zwischen 1934 und 1959 hatte der SVF nicht weniger als 43 Eingaben an verschiedene Bundesbehörden gemacht, also durchschnittlich fast zwei pro Jahr87), war durch tagespolitische Erfordernisse zusammen mit der Macht eines männlichen Expertenworts, dank dessen sich die Behörde legitimieren konnte, plötzlich möglich geworden.
In der Tat stützte sich die bundesrätliche Botschaft auf die zurückhaltende Argumentation des angesehenen Staatsrechtlers Werner Kägi (1909–2005).88 In seinem Gutachten, das er im Auftrag des SVF verfasst hatte, plädierte er für die Einführung des Frauenstimmrechts, allerdings nur auf der Basis einer partiellen Verfassungsrevision, eine einfache Neuinterpretation lehnte er ab. Der Bundesrat, der das Erscheinen des Gutachtens abgewartet hatte, um seine Botschaft zu verabschieden, folgte dem von Kägi vorgeschlagenen Verfahren, beharrte also auf einer Volksabstimmung und schloss jeden alternativen Weg aus, was die Chancen des Frauenstimmrechts eher unsicher machte. In zweifacher Hinsicht verringerte die Botschaft sie noch weiter. Erstens gab der Bundesrat den Argumenten der Gegnerschaft darin derart viel Raum und präsentierte sie in einer solch unkritischen Form, dass sie als durchaus legitim erschienen.89 Zweitens schlug er die Abänderung von nicht weniger als 16 Artikeln der Bundesverfassung vor, was die Vorlage als derart gewichtig erscheinen liess, dass sie nur abschreckend wirken konnte. Der Ständerat, der als Erster beriet, reduzierte die Änderungsvorschläge auf ein handliches Mass, akzeptierte die Vorlage aber gleichwohl nur mit 19 gegen 14 Stimmen. Der Nationalrat, der sie im März 1958 behandelte, nahm sie mit 95 gegen 37 Stimmen an.
Intensivierung der Mobilisierung
Inzwischen hatten die Verfechterinnen und Verfechter des Frauenstimmrechts wiederum verschiedene Vorgehensweisen aktiviert und waren erneut gescheitert: Von den sechs kantonalen Abstimmungen, die zwischen 1953 und 1957 stattgefunden hatten, war nur die restriktivste, die Ermächtigung zur Einführung des Stimm- und Wahlrechts in den Bürgergemeinden in Basel-Stadt, akzeptiert worden. (Die Gemeinde Riehen führte es 1958 als erste ein.) Die Ja-Stimmen-Anteile waren zwar im Vergleich zu früheren kantonalen Abstimmungen etwas gestiegen, doch nur moderat: in Zürich zum Beispiel um etwas mehr als sechs Punkte, von 22,5 (1947) auf 28,7 Prozent (1954); in Basel-Stadt um acht Punkte, von 37,1 (1946) auf 45,1 (1954) Prozent. Gescheitert war auch eine erneute Bestrebung von Frauen, sich ins Stimmregister eintragen zu lassen. Im Unterschied zum früheren Versuch durch Jenni handelte es sich nun um über tausend Frauen aus drei Westschweizer Kantonen. Die Initiatorin, die Lausanner Rechtsanwältin Antoinette Quinche (1896–1979), konnte sich nun selbst an das Bundesgericht wenden. Dieses beharrte freilich auf seiner alten Position, erforderlich sei eine partielle Verfassungsrevision. Ein Wandel zeigte sich aber in Bezug auf die inneren Kräfteverhältnisse im richterlichen Gremium: Zwei von sieben Bundesrichtern teilten nun die von Quinche ins Spiel gebrachte Option einer Verfassungsinterpretation.
Im Hinblick auf die Abstimmung von 1959 hatten sich die Frauenorganisationen schon im November 1957 in der Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau zusammengeschlossen. Mit dabei war erstmals auch der Schweizerische Katholische Frauenbund (SKF), allerdings fehlte der SGF. Auch die Gegnerinnen hatten sich neu organisiert: im Bund der Schweizerinnen gegen das Frauenstimmrecht. Diese Organisation war dauerhafter als die früheren, sie blieb zwischen 1958 und 1971 aktiv.90 Anders als die Befürworterinnen optierte sie für eine nicht gemischte Mitgliedschaft. Die Frauen sollten ohne Männer in der Öffentlichkeit auftreten, um die Sichtweise zu begünstigen, dass die Frauen das Stimmrecht nicht wollten. Die Männer, die sie unterstützten und berieten, sollten eigene Unterstützungskomitees bilden. Es war allerdings einer ihrer männlichen Verbündeten, der katholisch-konservative Nationalrat Karl Hackhofer (1904–1977), der an der zweiten Sitzung des gegnerischen Frauenkomitees erklärte, wie taktisch vorzugehen sei: «Ein Männerkomitee bestehend aus Mitgliedern aller Parteien ist in Vorbereitung. Wir müssen zusammen arbeiten, aber nicht nach aussen. Unsere Hauptaufgabe muss darin bestehen, unsere Stimme überall hörbar zu machen, den Mythos, die Frauen seien jetzt dafür, zu zerstören.»91
Eine nationale Niederlage und drei kantonale Erfolge
Trotz der hohen internen Mobilisierungskapazität der Befürworterinnen fiel das Abstimmungsergebnis am 1. Februar 1959 negativ aus. Mit 66,9 gegen 33,1 Prozent der Stimmen war es eine immense Niederlage. Nur die SP und der LdU hatten die Ja-Parole ausgegeben, der Freisinn und die CVP Stimmfreigabe, die BGB die Nein-Parole. Während die dem Liberalismus nahestehenden Zeitungen wie die NZZ und das Journal de Genève sich für das Frauenstimmrecht aussprachen, äusserten sich das führende katholische Organ Vaterland wie auch der Walliser Bote und der Appenzeller Volksfreund dagegen. In der lateinischen Schweiz hingegen befürworteten auch die katholische La Liberté und das Giornale del Popolo die Vorlage. Die Frauenverbände und ihre Presse ihrerseits waren um grosse Sachlichkeit bemüht gewesen.92
Auf lokaler Ebene zeigten die Abstimmungsergebnisse eine auffällige Tendenz: die Verschiebung der Unterstützung des Frauenstimmrechts von den Arbeiterschichten zu den Angestellten und Teilen des Bürgertums. Die von Peter Frey analysierten Zahlen beziehen sich zwar nur auf die Städte Zürich und Genf, doch ist zu vermuten, dass sie einen allgemeinen Trend repräsentieren. In Zürich überholten die bürgerlichen Kreise nun die Arbeiterkreise, und insbesondere den Kreis 5, der bis dahin die höchsten Zustimmungsraten aufgewiesen hatte. Die Entwicklung setzte bei der kantonalen Abstimmung von 1954 ein und beschleunigte sich 1959. Während in den Kreisen 4 und 5 die Zustimmung zum Frauenstimmrecht nur um 2 Prozentpunkte stieg, erhöhte sie sich in den bürgerlichen Kreisen 2 und 7 um 12 respektive 17 Punkte.93 Auf der Basis etwas weniger konsolidierter Daten weist die Stadt Genf eine similäre Entwicklung auf, allerdings weniger deutlich und leicht zeitverschoben. 1953 zeigten die Arbeiterkreise noch die vergleichsweise höchsten Zustimmungsraten, 1959 und 1960 wurden sie von den relativ jungen Kreisen mit hohem Anteil an Angestellten und Kadern überholt.94
Auf nationaler Ebene zeigten die Abstimmungsresultate ein West-Ost-Gefälle. Während sich in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden der Ja-Stimmenanteil auf 4,9 respektive 15,5 Prozent belief und in St. Gallen und Thurgau auf 19,3 respektive 19,9 Prozent, befürworteten drei Westschweizer Kantone das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene: Genf mit 60 Prozent Ja-Stimmen, Neuenburg mit 52,2 Prozent und Waadt mit 51,3 Prozent (siehe Karte 4, S. 194). Der Kanton Waadt stimmte gleichzeitig über die Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler und kommunaler Ebene ab. 52,6 Prozent der Stimmberechtigten sagten Ja. Neuenburg folgte am 27. September 1959 mit 53,6 Prozent, Genf am 6. März 1960 mit 55,3 Prozent Ja-Stimmen.