Frauenstimmrecht. Brigitte Studer

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Frauenstimmrecht - Brigitte Studer

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Abstimmung im Kanton Waadt fand auf Vorschlag des freisinnig dominierten Regierungsrats statt. Nachdem er 1957 dem Parlament einen diesbezüglichen Bericht vorgelegt hatte, diskutierte die Legislative am 14. Mai 1958 das «projet de décret», in dem es um Folgendes ging: «[…] d’accorder aux femmes l’égalité politique complète, c’est-à-dire le droit de voter et d’être élues tant sur le plan cantonal que sur le plan communal.» Der Regierungsrat begründete die Verfassungsänderung in erster Linie mit einem föderalistischen Argument. Mit Blick auf die eidgenössische Abstimmung vertrat er die Ansicht, dass es mit dem föderativen Aufbau des Schweizer Staats nicht konform wäre, auf nationaler Ebene ein neues Prinzip einzuführen, das auf kantonaler Ebene fehlte: «Il ne serait dès lors guère conforme à la structure fédérative de notre état que la Constitution fédérale pût consacrer, comme le résultat d’une évolution accomplie des mœurs, un principe qui ne trouverait son expression dans aucun des cantons de la Suisse.» Der Regierungsvorschlag sollte die richtige Ordnung wiederherstellen («rétablir l’ordre normal des choses») und politische Inkohärenzen vermeiden.95 Regierungsbericht und Verfassungsänderungsvorschlag passierten den Rat fast ohne Widerstand. Nur ein Ratsmitglied opponierte, während sich 13 Grossräte dafür aussprachen und ein Grossrat ambivalent Stellung nahm. Politiker der sechs grossen und grösseren Parteien engagierten sich im Abstimmungskomitee. Mit Ausnahme der rechtsextremen Ligue Vaudoise, die im Kanton gut verankert war, sprachen sich alle Parteien, ob aus Überzeugung oder politischem Kalkül, für die Einführung des Frauenstimmrechts aus. Die Stadt Lausanne befürwortete es sogar mit 65,5 Prozent Ja-Stimmen.96

      Im Kanton Neuenburg bedurfte es mehrerer Motionen, bevor der Regierungsrat auf das Geschäft eintrat. Er tat dies erst, nachdem eine Mehrheit der Kantonsbürger im Rahmen der eidgenössischen Abstimmung im Februar 1959 das Frauenstimmrecht befürwortet hatte und bereits am nächsten Tag je eine Motion der Liberalen Partei, der rechtsbürgerlichen Parti progressiste und der PdA eine Abstimmung über das integrale Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene verlangte. Sie addierten sich zu den bereits anderthalb Jahre früher eingereichten Motionen der SP und der FDP. Die drei bürgerlichen Parteien (Freisinn, Liberale und Parti progressiste) konnten sich jedoch nicht zur Ja-Parole durchringen, sondern beschlossen Stimmfreiheit! Das Abstimmungsresultat zeigte ein klares Stadt-Land-Gefälle. Das Gewicht der Städte (Neuenburg, La Chaux-de-Fonds, Le Locle) war entscheidend. Eine Besonderheit von Neuenburg lag darin, dass nun auch die im Kanton wohnhaften Ausländerinnen auf kommunaler Ebene das Stimmrecht erhielten!97

      Im Kanton Genf begann sich die lokale Sektion des SVF nach der erfolgreichen Konsultativabstimmung der Frauen im November 1952 und der erneuten Ablehnung des Frauenstimmrechts durch die männlichen Stimmbürger ein halbes Jahr später, am 7. Juni 1953, zögerlich zwar und mit internen Differenzen, zu radikalisieren. Erstmals seit den 1920er-Jahren griffen die Stimmrechtsaktivistinnen wieder zu öffentlichen Handlungsformen wie einer Flugblattaktion vor den Abstimmungslokalen, einem Boykottaufruf an die jungen Frauen zur Zeremonie für die Jungbürger (promotions civiques) sowie einer öffentlichen Gedenkveranstaltung ein Jahr nach der Konsultativabstimmung der Frauen. Nach der Gründung der Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau im November 1957 rief Georges Thélin (1890–1963), der Schweizer Jurist, der gerade von seinem Posten als Generalsekretär der NGO Union internationale de protection de l’enfance pensioniert worden war, zur Formierung einer männlichen Genfer Sektion auf, die alsbald 150 Mitglieder zählte. Im Unterschied zu den Waadtländerinnen verzichteten die Genfer Aktivistinnen und Aktivisten darauf, ihre Kontakte zum Regierungsrat spielen zu lassen, um am 1. Februar 1959 gleichzeitig mit der eidgenössischen Abstimmung eine kantonale in die Wege zu leiten. Die Kampagne wurde hauptsächlich von den männlichen Aktivisten geführt, die Frauen sollten explizit im Hintergrund bleiben, wobei notabene eine genau gegenteilige Taktik zu den Deutschschweizer Gegnerinnen und Gegnern gewählt wurde. Mit 60 Prozent Ja-Stimmen war die Abstimmung ein Erfolg, der allerdings durch die geringe Stimmbeteiligung von 45 Prozent etwas gedämpft war. Wenige Tage später, am 18. Februar 1959, reichten drei Abgeordnete bei der Genfer Legislative eine Motion zugunsten des kantonalen Frauenstimmrechts ein. Sie wurde am 4. Juli überwiesen, die Abstimmung auf den 5. und 6. März 1960 festgelegt. Die Stimmrechtsaktivistinnen durften am Radio sprechen. Von den Gegnerinnen und Gegnern wollte sich hingegen niemand exponieren, obschon sie auf Flugblättern und in der Presse eine virulente Kampagne führten98 – ein Hinweis, wie wenig Chancen sie ihrer politischen Positionierung selbst einräumten.

      Abkehr vom Sonderfall

      Es ist zu fragen, was diese drei kantonalen Erfolge kennzeichnet und welche Erklärungsfaktoren für die im Vergleich zum Rest der Schweiz frühe politische Gleichstellung der Geschlechter angeführt werden können. Dabei lassen sich einige Gemeinsamkeiten finden, die aber nicht in jedem Fall auf jeden Kanton im selben Masse zutreffen. Ferner: Während strukturelle Faktoren objektivierbar sind, trifft dies für kulturelle kaum zu.

      Politische Faktoren:

      –In allen drei Kantonen entstanden schon früh gut etablierte Stimmrechtsorganisationen: in der Stadt Neuenburg bereits 1905, in La Chaux-de-Fonds, Genf und Lausanne 1908. Ende der 1950er-Jahre zählte der SVF im Kanton Waadt mit rund 1200 Personen am meisten Mitglieder dank der Sektionen Lausanne und Montreux-Vevey. Zwischen der kantonalen Regierung und dem SVF bestand zudem nach dem Zweiten Weltkrieg ein offener Kommunikationskanal. Dies traf auch in Genf zu.

      –In den Kantonen Neuenburg und Genf finden sich schon früh und wiederholt politische Auseinandersetzungen über das integrale Frauenstimmrecht: Im Kanton Neuenburg gab es vier Abstimmungen (1919, 1941, 1948, 1959), bevor das Frauenstimmrecht 1959 mit der fünften eingeführt wurde, ebenso im Kanton Genf 1960 (1921, 1940, 1946, 1953). Der Kanton Waadt weicht freilich von diesem Muster ab.99

      –Die drei Kantone wiesen historisch vor allem ab dem Zweiten Weltkrieg mit der SP und der PdA eine starke Linke auf, zwei Parteien, die sich seit den 1920er-Jahren auf institutioneller Ebene für das Frauenstimmrecht eingesetzt hatten; zu ihnen stiessen in den 1950er-Jahren Vertreter bürgerlicher Parteien (in erster Linie des Freisinns und der Liberalen). In allen drei Kantonen war auf der Ebene der Legislative und im Rahmen eines Abstimmungskomitees eine Zusammenarbeit zwischen den grossen Parteien zugunsten des Frauenstimmrechts entstanden. In Genf wurde bereits die Motion, die zur Abstimmung von 1953 führte, von den Vertretern von vier Parteien (SP, PdA, Liberale, Christlich-Soziale) eingereicht. In Neuenburg waren es die Vertreter von fünf Parteien. Im Kanton Waadt war es der aus drei Freisinnigen, einem Liberalen und drei Sozialdemokraten zusammengesetzte Regierungsrat, der 1957 die Initiative ergriff.

      –In den drei Kantonen manifestierte sich bereits früh ein aktives Engagement von einzelnen Männern aus der politischen und soziokulturellen lokalen Elite; in der Zwischenkriegszeit vor allem aus dem vom Abolitionismus geprägten christlich-sozialen Milieu und aus der SP, ab den 1950er-Jahren waren es wie erwähnt auch Freisinnige und andere Bürgerliche.

      –Die Frauen verfügten bereits seit Ende des 19. respektive Beginn des 20. Jahrhunderts über partielle Stimm- und/oder Wahlrechte, sei es in Schulkommissionen und in Kirchenangelegenheiten, sei es in Vormundschaftsbehörden und in Gewerbegerichten. In Genf besassen sie seit 1886 das passive Wahlrecht in Schulkommissionen, im Kanton Waadt seit 1906, in Neuenburg seit 1908. Genf ging auch in Kirchenangelegenheiten voran. Bereits 1891 erteilte die Eglise libre Frauen das aktive Wahlrecht, die reformierte Landeskirche folgte 1910.100 Im Kanton Waadt hatte die reformierte Landeskirche diesen Schritt bereits 1903 getan, in Neuenburg erfolgte dieser 1916, nun aber mit dem aktiven und passiven Wahlrecht. Die Eglise libre des Kantons Waadt ihrerseits führte bereits 1926 die Frauenordination ein. Als erste Kantone nahmen Genf 1910 (allerdings 1914 wieder abgeschafft) und Neuenburg 1916 Frauen in gewerbliche Schiedsgerichte auf. In Neuenburg wurden sie 1927 auch in die Vormundschaftsbehörden wählbar und erhielten damit in Scheidungsprozessen richterliche Funktionen (siehe Karten 1

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