Sprachenlernen und Kognition. Jörg-Matthias Roche
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1.2.2 Zweisprachigkeit und Lateralisation: das bilinguale Gehirn
In Bezug auf Bilingualismus gibt es eine große Anzahl von Studien, die versucht haben zu zeigen, dass Zweitsprachen sich teilweise oder vollständig in der nichtdominanten Hemisphäre befinden. Es wurden viele Faktoren, die die Rolle dieser Hemisphäre erklären könnten, untersucht: Das Alter, in dem die Sprache erworben wurde, die Rechts- oder Linkshändigkeit und die Sprachkompetenz in der Zweitsprache (L2) wurden hierbei am häufigsten betrachtet. Um den Einfluss beider Hemisphären zu untersuchen, wurden vor der Entwicklung bildgebender Verfahren in der Neurologie Techniken verwendet, wie zum Beispiel das visuelle Halbfeld-Paradigma. Bei diesem Verfahren mussten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen einen Punkt im Mittelpunkt eines Bildschirms mit den Augen fokussieren, während links oder rechts davon Wörter projiziert wurden. Nach der Sitzung wurden die Teilnehmenden nach den Wörtern befragt, die im linken beziehungsweise rechten visuellen Halbfeld gezeigt wurden. Obwohl die Ergebnisse oft uneindeutig waren, war doch festzustellen, dass die im rechten visuellen Halbfeld gezeigten Wörter besser behalten wurden als Wörter im linken Halbfeld. Eine mögliche Erklärung dafür war, dass das rechte Halbfeld direkter mit der dominanten Gehirnhälfte verbunden sei und damit Wörter in diesem Halbfeld besser im Gedächtnis blieben. Die andere Variante dieser Aufgabe betraf den Hörsinn, genauer das sogenannte dichotische Hören. Bei dieser Aufgabe hörten die Teilnehmenden mit beiden Ohren gleichzeitig verschiedene Wörter. Wörter, die mit dem dominanten Ohr gehört wurden, also in dem Ohr gegenüber der dominanten Gehirnhälfte, wurden für gewöhnlich besser behalten. Des Weiteren wurde dieses Experiment mit Rücksicht auf die Inputsprache modifiziert, wobei die Teilnehmenden Wörter in zwei Sprachen gleichzeitig hörten, eine Sprache je Ohr. Dabei wurden die Lateralisation hinsichtlich der jeweiligen Sprache und das Behalten der Wörter in zwei Sprachen untersucht. Als Vergleichswert wurden Ergebnisse dieses Versuchs bei monolingualen Sprechern und Sprecherinnen herangezogen. Paradis (2003, 2007) spricht sich in einigen Veröffentlichungen gegen die Annahme aus, dass durch Mehrsprachigkeit die rechte Hemisphäre stärker einbezogen würde. Er kritisiert die Methoden, die für diesen Test verwendet werden, als nicht angemessen und unzuverlässig. Dazu reagierte er sehr energisch auf weitere Versuche, diejenigen einzigartigen Bedingungen zu finden, die zufällig zum erwünschten Effekt führen, nämlich einer augenscheinlichen Spezialisierung der Gehirnhälften. Aus seiner Sicht ist die nichtdominante Hemisphäre an der bildhaften und metaphorischen Sprache beteiligt sowie an supra-segmentalen Aspekten der Artikulation. Bezüglich weiterer Sprachaspekte behauptete er, nach lateraler Spezialisierung zu suchen, komme der Suche nach dem Loch-Ness-Monster gleich (vergleiche Paradis 2003). Neueste Studien verwenden bildgebende Verfahren, die die Argumentation von Paradis mehr oder weniger bestätigen. Seitdem bewegt sich die Aufmerksamkeit der Forschung weg von der lateralen Spezialisierung auf Sprachen, da es zunehmend als anerkannt gilt, dass Sprachen und Sprachkompetenzen nicht an einer bestimmten Stelle verortet sind, sondern vielmehr auf einem Netzwerk aus Gehirnzellen basieren, das sich über beide Seiten der Hirnhautrinde ausbreitet.
Sprachdarstellungen im mehrsprachigen Gehirn
Über die Lateralisation bei bilingualen Sprecherinnen und Sprechern hinaus haben sich viele Forscher und Forscherinnen mit der Frage beschäftigt, ob unterschiedliche Sprachen in den gleichen Gehirnregionen Neuronen aktivieren oder nicht. Ursprünglich glaubten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, dass unterschiedliche Sprachen womöglich in unterschiedlichen Regionen des Gehirns gespeichert werden. Diese These stammt hauptsächlich aus der Auseinandersetzung mit medizinischen Fällen, in denen berichtet wurde, dass bilinguale Sprecher und Sprecherinnen nach einer Gehirnverletzung oder einem Schlaganfall nur noch eine der beiden Sprachen sprechen konnten. Der Neurologe Albert Pitres (1895; in Paradis, 1997) behauptete allerdings, dass unterschiedliche Sprachareale unwahrscheinlich seien, da sich ein Schlaganfall oder eine Gehirnverletzung in diesem Fall sehr selektiv auf die vier Bereiche des Gehirns auswirken müsste, die der Sprachverarbeitung dienen. Das würde bedeuten, dass zwei Wahrnehmungszentren (Hörsinn und Sehsinn) und zwei motorische Zentren (graphisches und phonetisches Areal) gleichzeitig eingeschränkt werden müssten, ohne dabei die andere Sprache zu beeinflussen. Pitres Ansicht gilt auch heute noch und wurde durch neurologische Studien mit bildgebenden Verfahren bestätigt und erweitert.
Eine interessante Studie von Chee, Tan & Thiel (1999) setzte die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT oder fMRI, diese Methode wird in Lerneinheit 1.3 genauer beschrieben) ein, um festzustellen, welche Gehirnareale für die Wortbildung bei bilingualen Sprechern und Sprecherinnen (Mandarin und Englisch) verantwortlich sind, und zwar sowohl bei früh als auch spät erworbener Mehrsprachigkeit. Trotz der großen Unterschiede zwischen den Sprachen und deren Schriftsystemen wurden bei der Beobachtung der Hirnrinde keine Unterschiede in der Aktivierung festgestellt, egal ob die Probanden und Probandinnen Wörter auf Englisch oder Mandarin formulierten. Die aktiven Areale waren bei beiden Sprachen das Broca-Areal, jener Teil des Frontallappens, der für die ausführende Steuerung von Tätigkeiten zuständig ist, sowie das motorische Areal, das bei der Artikulation von Sprache beteiligt ist. Interessanterweise gab es keinen Unterschied hinsichtlich der aktiven Areale zwischen Probanden und Probandinnen, die Englisch vor dem sechsten Lebensjahr erworben hatten, und Probanden und Probandinnen, die erst nach dem zwölften Lebensjahr Englisch zu erwerben begonnen hatten.
Eine Studie von Vingerhoets, Van Borsel, Tesink, Van den Noort, Deblaere, Seurinck & Achten (2003), bei der trilinguale Sprecher und Sprecherinnen (Niederländisch-Englisch-Französisch) verschiedene Aufgaben, zum Beispiel zur Objektbenennung oder zum Leseverständnis, ausführen mussten, belegt ebenfalls eine Überschneidung der Hirnregionen, jedoch konnten hier Unterschiede in der Intensität und Reichweite des Aktivierungsmusters beobachtet werden. Nach jetzigem Forschungsstand scheint es so, als wäre ein erweitertes Set von Hirnarealen an der Verarbeitung der später erworbenen oder weniger verfestigten Sprache beteiligt. Eine von Indefrey (2006)