Sprachenlernen und Kognition. Jörg-Matthias Roche
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Bilinguale Aphasie
So wie einzelne Komponenten innerhalb der Sprachen dadurch untersucht werden können, dass man beobachtet, welche Stellen im Gehirn verletzt sind und welche spezifischen Sprachprobleme dabei auftreten, so können uns auch Forschungen über Aphasie Erkenntnisse verschaffen, wie verschiedene Sprachen im Gehirn repräsentiert werden.
Zwei Meta-Analysen zur bilingualen und multilingualen Aphasie sind die wichtigsten Informationsquellen hierzu (Albert & Obler 1978 mit 108 Fällen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1977; Paradis 1977 sowie 1983 mit einer Analyse historischer Fälle). Obwohl die berichteten Fälle durchaus faszinierend sind und reichhaltige Informationen liefern, ist bei ihrer Interpretation dennoch Vorsicht geboten. Albert & Obler weisen darauf hin, dass »individual case studies on polyglot aphasics are published because they are interesting« (Albert & Obler 1978: 100). Gemessen an heutigen Standards sind die Berichte und Bewertungsmethoden vollkommen unzureichend und basieren oft auf zwar womöglich sehr scharfsinnigen, aber oft schwer einzuschätzenden Eindrücken medizinischer Expertinnen und Experten. Es gibt fünf wiederkehrende Muster in Bezug auf den Verlust und der Wiedererlangung (Restitution) verschiedener Sprachen, die in der Literatur erwähnt werden (Paradis 1977, 2004: 65):
Parallele RestitutionParallele Restitution: Die Sprachen sind im gleichen Ausmaß gestört und werden gleichmäßig wiedererlangt.
Differentielle RestitutionDifferentielle Restitution: Die Sprachen sind in unterschiedlichem Maße gestört, aber die Wiedererlangung vollzieht sich in allen Sprachen.
Sukzessive RestitutionSukzessive Restitution: Die Sprachen werden nacheinander wiedererworben.
Selektive RestitutionSelektive Restitution: Eine oder mehrere Sprachen bleiben dauerhaft gestört, während eine andere Sprache wiedererlangt wird.
Antagonistische Restitutionantagonistische Restitution: Durch die Restitution einer Sprache verschlechtert sich eine andere.
Die Literatur zu bilingualer Aphasie weist auf eine Reihe von Faktoren hin, die eine Rolle bei der Wiedererlangung der Sprachen spielen. Dazu gehören die Reihenfolge, in der die Sprachen gelernt wurden, das erreichte Kompetenzniveau in den Sprachen, affektive Einstellungen gegenüber den Sprachen, der Ort und die Größe der Läsion und die Verwendung der Sprache in der jüngeren Vergangenheit. Kein einzelner Faktor scheint alleine geeignet, die unterschiedlichen Muster des Sprachverlusts und der Restitution zu erklären. Paradis (2001) fasst die Ergebnisse der Meta-Analysen wie folgt zusammen:
Weder die Erstsprache, Automatisierung, Gewohnheiten, ex-ante und ex-post Stimulierung, Angemessenheit, Notwendigkeit, Affektivität, Schwere der Aphasie, Art der Zweisprachigkeit, Art der Aphasie oder strukturelle Distanz zwischen den Sprachen konnte die verschiedenen nicht-parallelen Restitutionsmuster angemessen erklären. (Paradis 2001: 90)
Diese Daten zeigten also bereits, was bildgebende Verfahren in der Neurologie später bestätigten: Unterschiedliche Sprachen besitzen nicht jeweils einen eigenen Ort im Gehirn, sondern befinden sich in einzelnen Zell-Netzwerken innerhalb der bekannten Sprachbereiche im Gehirn. Die Literatur kennt einige Fälle, in denen bei Patientinnen und Patienten verschiedene Formen der Aphasie in unterschiedlichen Sprachen auftraten. Das würde die Vorstellung unterstützen, dass Sprachen ihre eigenen Bereiche im Gehirn einnehmen. Paradis (2004: 65ff) diskutiert eine Reihe von Fällen, die als differentielle Restitution bezeichnet wurden. Er schließt daraus, dass sich diese Art der Restitution auf den Grad der Störung in unterschiedlichen Sprachen bezieht und dass es sich nicht um tatsächlich unterschiedliche Störungsvarianten bei den untersuchten Patienten und Patientinnen handelt. Theoretisch gibt es wahrhafte Datenozeane in den Krankenhäusern der Welt, die eine neurologische Abteilung haben, die man hinzuziehen könnte, um diese Fragen genauer zu beantworten, da die meisten eingelieferten Patienten und Patientinnen entweder bilingual oder bidialektal sind. Idealerweise sollten sie so früh wie möglich und dann noch einmal ein paar Tage später getestet werden, um das Ausmaß der Verschlechterung oder der Wiedererlangung der Sprachen festzustellen. Der bereits existierende bilingual aphasia test (vergleiche Paradis & Libben 2014), ein ausführlicher Auswahltest, der in vielen Sprachen verfügbar ist, könnte dazu herangezogen werden.
Während es für monolinguale Sprecher und Sprecherinnen nur eine Möglichkeit der Sprachtherapie gibt, können bilinguale und multilinguale Personen ihre Therapie in mehr als einer Sprache erhalten. Es gibt eine rege Diskussion darüber, welches der effektivste Ansatz sei: Sollte man die am stärksten ausgeprägte Sprache, meist die Erstsprache, behandeln und darauf hoffen, dass die weiteren Sprachen zurückkehren, oder sollte man eine Zweit- oder Drittsprache verwenden, um das gesamte Sprachsystem zu reaktivieren?
Unterschiede zwischen bilingualer und multilingualer Aphasie
Die Definitionsprobleme bezüglich Bilingualismus und Multilingualismus werden dann besonders akut, wenn man versucht, sie in Bezug auf Aphasie zu vergleichen. Die Fachliteratur, die sich auf dieses Thema bezieht, ist dadurch eingeschränkt, dass sich die Berichte selektiv für besonders außergewöhnliche oder spannende Fälle interessieren. Das macht es schwierig, generalisierbare Aussagen zu treffen. Aus heutiger Sicht ist ebenfalls problematisch, dass die Berichte aufgrund fehlender Standards nur ein unvollständiges Bild liefern. Belastbare Schlussfolgerungen kann man deswegen kaum aus den verfügbaren Studien ziehen. Albert & Oblers (1978) Meta-Analyse konnte keine signifikanten Unterschiede zwischen Bilingualen und Multilingualen feststellen, weist aber auf einige Tendenzen hin:
Mehrsprachige scheinen die zuerst erworbene Sprache besser wiederzuerlangen, während Bilinguale eher die Sprache wiedererlangten, die sie als Letztes gelernt und häufiger genutzt hatten.
Bei multilingualen Sprecherinnen und Sprechern kam es öfter zu nicht-paralleler Restitution.
Die erste Sprache verschlechtert sich bei der Wiedererlangung der zweiten Sprache eher bei multilingualen Personen als bei bilingualen.
Das Hauptproblem besteht weiterhin darin, dass zu den Patienten und Patientinnen kaum Informationen über prämorbide Sprachfähigkeit und Sprachnutzung vorhanden sind, um diese Tendenzen zu belegen. Nicht-parallele Restitution spiegelt sehr wahrscheinlich die Unterschiede in der Sprachfähigkeit vor der Gehirnverletzung wieder.
1.2.3 Neuroplastizität und Zweitspracherwerb
Obwohl das Gehirn lange Zeit als feste Struktur gesehen wurde, die menschliches Verhalten einschränkt, wird heutzutage übereinstimmend davon ausgegangen, dass das Gehirn tatsächlich auf äußere Reize reagiert und sich ihnen anpasst. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Ausmaß des Einflusses, den der Erwerb und die Verwendung einer Zweit-, Dritt-, Viertsprache auf funktionale und strukturelle Veränderungen im Gehirn ausüben.
Green, Crinion & Price (2006) beziehen sich auf eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, dass es ein Verhältnis zwischen der Struktur des menschlichen Gehirns und bestimmten Lernaufgaben gibt. Die bekannteste Studie ist vermutlich von Maguire, Spiers, Good, Hartley, Frackowiak & Burgess (2003), die sich mit Unterschieden in der Gehirnstruktur zwischen erfahrenen und unerfahrenen Taxifahrern und Taxifahrerinnen in London beschäftigte. Diese Querschnittsstudie kam zu dem Ergebnis, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Erfahrenheit des Taxifahrers oder der Taxifahrerin und der Dichte der grauen Substanz sowie der Größe bestimmter Areale gibt. Bestimmte Erfahrungen