Sprachenlernen und Kognition. Jörg-Matthias Roche

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Sprachenlernen und Kognition - Jörg-Matthias Roche Kompendium DaF/DaZ

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hinein und wieder heraus und erzeugt dabei in geringem Abstand Dipole mit negativer und positiver elektrischer Ladung. Wenn viele neuronale Dipole dieselbe Art von Input erhalten und ähnlich ausgerichtet sind (positiv oder negativ), addieren sie sich auf und können dann mittels der Elektroenzephalographie (EEG) außerhalb des Schädels gemessen werden. Während einer EEG-Aufzeichnung trägt der Proband oder die Probandin eine Kappe, die mit 32, 64 oder sogar noch mehr Elektroden bestückt ist. Die Kappe ist so beschaffen und wird so aufgesetzt, dass jede Elektrode an einer bestimmten Stelle auf die Kopfhaut trifft; jede Elektrode zeichnet die elektrische Aktivität von Tausenden Neuronen auf. Das Ergebnis stellt ein Gesamtbild der Gehirnaktivität dar. Dabei wird pro positionierter Elektrode eine Wellenlinie ausgegeben. Als ereigniskorrelierte Hirnpotentiale (ERPs) werden die Veränderungen in der elektrischen Strömung bezeichnet, die sich aufgrund eines spezifischen Stimulus oder einer bestimmten Aktivität ereignen, zum Beispiel durch ein Wort oder ein Bild. Um herauszufinden, welcher Teil des EEG die durch den Stimulus erzeugte Aktivität abbildet, sind mehrfache Messungen vonnöten. Denn die Aufzeichnung erfasst auch viele irrelevante Gehirnaktivitäten zusammen mit den ereigniskorrelierten Hirnpotentialen.

      Für ein aussagekräftiges Ergebnis muss das EEG deshalb zeitlich auf den spezifischen Stimulus eingegrenzt und der Durchschnitt ermittelt werden. Danach erst wird das ereigniskorrelierte Hirnpotential sichtbar, denn die nicht zeitlich eingegrenzten, irrelevanten Gehirnaktivitäten werden ausgeglichen.

      Viele Studien, die ereigniskorrelierte Hirnpotentiale zur Untersuchung von Sprachverarbeitung verwenden, machen sich das Erwartungsverletzungsparadigma zunutze. Bei diesem Verfahren werden ereigniskorrelierte Hirnpotentiale miteinander verglichen, die als Reaktion auf zwei Sätze entstehen. Die beiden Sätze unterscheiden sich nur in einem einzigen Aspekt. Es wird davon ausgegangen, dass die Unterschiede in der Wellenform der beiden ERPs die Verarbeitungsunterschiede im Gehirn abbilden. Es ist möglich, diese Abweichung auf den einen Aspekt zurückzuführen, der in den beiden Sätzen anders war. Wenn zum Beispiel der zeitliche Verlauf der semantischen Verarbeitung untersucht werden soll, kann die Reaktionen des Gehirns auf die Wörter Buch und Wasser in den folgenden beiden Sätzen verglichen werden:

(1)Ich werde dieses Buch im Zug lesen.
(2)Ich werde dieses Wasser im Zug lesen.

      Die daraus resultierenden ERP-Effekte oder -Komponenten, das heißt der Unterschied in der Aktivierung zwischen den beiden Sätzen ab Beginn des Wortes Buch beziehungsweise Wasser, werden oft nach der Polarität und dem Zeitpunkt benannt, an dem sie ihren Höhepunkt erreichen (N400 ist eine negativ gerichtete Welle, der Höhepunkt liegt bei 400 Millisekunden nach Beginn); oder sie werden nach der Verteilung und der Polarität benannt (LAN ist links anterior negativ bei verschiedenen Latenzzeiten nach Beginn). Im Verlauf der Jahre sind mit Experimenten mittels ereigniskorrelierter Hirnpotentiale verschiedene Komponenten der Hirnpotentiale identifiziert worden, die überwiegend mit bestimmten Aspekten des Sprachverstehens in Verbindung gebracht werden können.

      N400 ist die bekannteste ERP-Komponente, die bei Verstößen gegen die Semantik sicher beobachtet werden kann (Kutas & Hillyard 1980), so wie in Ich werde dieses Wasser im Zug lesen. Diese Komponente zeigt einen negativen Ausschlag, der bei ungefähr 400 Millisekunden seinen Höhepunkt erreicht, nachdem ein semantisch nicht plausibles Wort verarbeitet worden ist. Am besten ist dieser Effekt über den zentralen parietalen Arealen der Kopfhaut sichtbar (vergleiche dazu Abbildung 1.5 weiter unten). N400 ist stärker bei Wörtern, die schwer in einen Satz integriert werden können und schwach bei leicht integrierbaren Wörtern. Es wäre zum Beispiel einfach, das Wort Pferd in so einem Satz zu verarbeiten: Der Cowboy ritt auf dem Pferd. Es wäre weitaus aufwändiger für das Gehirn, das Wort Pferd in diesem Satz zu verarbeiten: Der Einbrecher bewegte sein Pferd. Wenn die ERP-Wellenformen bei einer Person als Reaktion auf das Wort Pferd in diesen beiden Sätzen verglichen werden, dann würden die Gehirnwellen einen relativen negativen Höhepunkt als Reaktion auf das Wort Pferd im Satz Der Einbrecher bewegte sein Pferd aufweisen. Der Höhepunkt steht für die erhöhte Aktivität und kann die relative Schwierigkeit bei der Verarbeitung der Information abbilden.

      Kutas und Hillyard (1983) haben zuerst gezeigt, dass morphosyntaktische Verstöße andere ERP-Komponenten hervorrufen als semantische Verstöße. Ihre Studie umfasste sowohl semantische Anomalien als auch deplatzierte finite und infinite Verben. Die semantischen Anomalien erzeugten ein N400, wohingegen alle morphosyntaktischen Anomalien frontal zentral negativ bei 300–400 Millisekunden und rückwärtig positiv bei 300 Millisekunden nach Beginn auftraten. Sie leiten daraus ab, dass Semantik und Syntax über separate neurale Verarbeitungssysteme gesteuert werden. Aber es ist auch denkbar, dass diese Annahme schlichtweg die vorherrschenden Sprachtheorien dieser Zeit wiederspiegelt, in denen strikt zwischen Syntax und Semantik getrennt wurde.

      Die ermittelte spät positive Reaktion erreicht bei syntaktischen Verstößen bei 600 Millisekunden nach Beginn ihren Höhepunkt, beginnt bei 500 Millisekunden und dauert bis zu 800 oder 1000 Millisekunden an. Am deutlichsten wird sie auf der Rückseite des Kopfes sichtbar (vergleiche 1.5). Osterhout & Holcomb (1992) bezeichneten dies zuerst als einen syntaktischen Effekt und nannten es den P600-Effekt. Der P600-Effekt wird von einer Vielzahl syntaktischer Verstöße ausgelöst. Dazu gehören morphosyntaktische Verstöße und Verstöße gegen die Kategorienerwartung. In einem Satz wie Der Cowboy hat sein Pferd reiten muss der Leser oder die Leserin die falsche Zeit des Verbs korrigieren und den Satz neu analysieren, um die verarbeiteten Informationen zu verstehen. Das zeigt sich im größeren positiven Ausschlag bei 600 Millisekunden für reiten im Vergleich zur korrekten Zeitform geritten. Außer bei syntaktischen Verstößen wurde der P600-Effekt auch als Reaktion auf grammatikalisch korrekte Sätze mit unterschiedlicher Komplexität gemessen (Kaan, Harris, Gibson & Holcomb 2000).

      

Abbildung 1.5:

      ERP-Wellenformen nach Loerts, Stowe & Schmid (2013: 573)

      Abbildung 1.5 zeigt Wellenformen ereigniskorrelierter Hirnpotentiale als Reaktion auf ein Zielwort, das innerhalb eines Satzes semantisch und grammatikalisch korrekt war (die schwarze Linie), und auf das Wort, als es semantisch und grammatikalisch nicht vollständig korrekt war. Die X-Achse zeigt die Latenzzeit in Millisekunden nach dem Beginn des Wortes und die Y-Achse zeigt die Höhe der Mikrovolt, die zu den bestimmten Zeitpunkten gemessen wurden. Beachten Sie, dass positiv nach unten und negativ nach oben ausgerichtet ist. Aus unbekannten Gründen ist dies in der Forschung so üblich.

      Die räumliche Auflösung in ereigniskorrelierten Hirnpotentialen ist mangelhaft, ihre zeitliche Auflösung nach Millisekunden ist jedoch hervorragend. Deshalb ist das ERP-Verfahren eine erprobte und verlässliche Messmethode der Sprachverarbeitung in Echtzeit. Einige Forscher und Forscherinnen bevorzugen die Magnetenzephalographie (MEG) anstelle der Elektroenzephalographie. Ein Magnetenzephalograph misst magnetische Felder, die von elektrischen Strömungen im Gehirn produziert werden. Das magnetische Feld wird in Reaktion auf so genannte Events von Hunderten Sensoren in einem helmartigen Scanner gemessen, der um den Kopf des Probanden oder der Probandin herum aufgebaut wird. Der Magnetenzephalograph ähnelt dem Elektroenzephalographen, ermöglicht jedoch eine bessere Lokalisierung der Quelle, da die magnetischen Felder nicht so sehr vom Schädel verzerrt werden wie die elektrische Aktivität, die vom Elektroenzephalographen gemessen wird. Ein Nachteil des Magnetenzephalographen ist, dass er nur neurale Strömungen erkennen kann, die parallel zur Oberfläche des Schädels fließen.

      Bei der Verwendung von Wann-Verfahren in der Zwei- und Mehrsprachigkeitsforschung wird hauptsächlich der Frage nachgegangen, ob bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieselben Reaktionen und dieselben zeitlichen Abläufe und Ausschläge der Reaktionen in ihrer Zweitsprache messbar sind wie bei einsprachigen Personen. Ein wichtiger Vorteil dieses Verfahrens ist: Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind sich nicht bewusst, dass sie auf bestimmte Aspekte der Sprache und unbewusste Reaktionen auf Verstöße

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