Die verbotenen Bücher. Roger Reyab
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Dieser Mann hatte eine Polizistin getötet und verschwand dann einen langen Tag lang aus dem Fokus der Ermittler. Obwohl niemand wusste, wo der Mann denn war, wie er bei einem solchen Polizeiaufgebot mit schweren Waffen entkommen konnte, und man auch nicht wusste, wo er schlief oder wie er sich tarnte, tauchte er erst wieder auf, als er in einem jüdischen Supermarkt Geiseln nahm.
Der ehemalige Leiter der GSG 9, der einmal die Geiselnahme in Mogadischu beendet hatte, sagte auch mehrmals zu den Qualitätsmedien, dass es ihm absolut unverständlich sei, wie dieser farbige Mann den Behörden die ganze Zeit nach seinem Mord an der Polizistin nicht in die Hände fallen konnte. Obwohl jeder normale Mensch am Bildschirm dachte, dass die Qualitätsjournalistin da einmal nachhakte, war es im Gegenteil so, dass man den Eindruck bekam, dass der alte Mann der GSG 9 doch nicht so einen Mist erzählen solle.
Anscheinend schien der betagte Mann das aber nicht zu merken, denn er insistierte immer wieder auf den Punkt, wie es sein kann, dass jemand bei einer Mordaktion eine Polizistin tötet und dann frank und frei durch eine Stadt irrt, die mehr Polizei beherbergt als bei einem Krieg.
Dieser Aspekt wurde nicht weiter gewürdigt, denn in der aktuellen Situation schossen Vermutungen ins Kraut, die der Dramatik der Ereignisse neues Futter gaben. Die Journalisten standen vor einer Halle, die angeblich als der letzte Zufluchtsort der Terroristen ausgemacht worden war.
Es handelte sich um ein Verlagshaus, oder andere sagten, um eine Cateringfirma für Flugzeugverpflegung, andere sagten, dass man eben nicht weiß, was es ist. Das war wieder sehr merkwürdig. Es bedarf doch sicher auch für die Qualitätsjournalisten keines großen Aufwandes, wenn man da einmal Google bemüht, bevor man stundenlang darüber mutmaßt, was für eine Firma das eigentlich ist.
Jedenfalls war diese Fabrikhalle der Ort, an dem Weltgeschichte geschrieben wurde.
Der Zuschauer der Ereignisse sah nichts. Einmal sah er den Acker und einen Hubschrauber und dann sah er eine Kreuzung, an der Verkehrskontrollen erfolgten. Auffällig war, dass man den Eindruck erwecken wollte, dass die Fabrikhalle in der Nähe eines Flughafens wäre, den man nun hermetisch abgeschirmt hätte. Irgendwie war diese Information nicht ganz verständlich, denn es kann selbst einem James Bond doch nicht gelingen, aus einer, von tausenden Polizeikräften umzingelten Halle, noch zum Flughafen zu gelangen.
Vielleicht wollte man aber auch verhindern, dass Terroristen mit Flugzeugen landeten, um die eingeschlossenen Dschihadisten zu befreien.
Wie auch immer.
Man sah ständig Reporter, die alles über die Vorgänge in der Halle wussten. Man musste aber, selbst bei wohlwollender Begutachtung konstatieren, dass alle Informationen, die die Qualitätsjournalisten kundtaten, direkt aus Quellen der Staatsanwaltschaft und der Polizei stammten. Eigentlich berichteten die Journalisten also nicht. Sie gaben einfach stoisch alles weiter, was gerade offiziell in Pressemitteilungen an sie herausgegeben wurde. Die Qualitätsjournalisten waren so dankbar dafür, dass man sie im Fernsehen reden ließ, dass sie nicht einmal auf die Idee kamen, sich vielleicht selbst ein Bild der Lage zu verschaffen.
Unhinterfragt wurden die Informationen für bare Münze genommen, die man weder nachgeprüft hatte, noch die man hätte nachprüfen können. Da die Qualitätsmedien aber darin geschult zu sein scheinen, dass man als Journalist nicht übermäßig selbstständig recherchiert, sondern einfach vertrauensvoll nachbetet, was einem angetragen wird, erfüllten die Journalisten ihren Auftrag ohne Reue.
Die Ereignisse schienen sich zuzuspitzen. Ständig kamen neue Eilmeldungen, die alle wieder den bekannten „Vielleicht-Möglicherweise-Aspekt“ innehatten.
Als der farbige Mann einen Supermarkt überfiel, war das Drama an Spannung aufgeladen. Tausende von Polizisten wurden sogleich an den Ort des Geschehens verbracht, die sich eigentlich mehr gegenseitig behinderten, als der Sache dienlich zu sein. Man sah nun eine Qualitätsjournalistin, die ständig von einer abgesperrten U-Bahnstation berichtete und neben sich absolut gelangweilte Polizisten hatte, die wohl keine Aufgabe erfüllten, als sich die Häuserkulisse einzuprägen. Ambulanzen wurden geordert und man wusste nicht, ob der islamische Täter 2 oder 10 oder 100 oder vielleicht auch gar keine Geiseln hatte.
Bei den Terroristen in der Halle vernahm man merkwürdige Angaben über die Geiseln, die sich in deren Gewalt befanden. Mal war es ein 28-jähriger Mann, dann der Geschäftsführer, dann ganz andere Personen.
Man stellte sich zwangsläufig die Frage, ob so eine große Halle an diesem Tag derart verwaist war, dass man nur eine Geisel hätte finden können. Schnell erfuhr man aber auch, dass die Dschihadisten eh nicht mehr leben wollten und als Märtyrer sterben wollten. Ein Zeuge soll angeblich, wie man später erfuhr, ständig in der Halle unbemerkt das Geschehen verfolgt haben und über Handy der Polizei Lageberichte gegeben haben. Woher hatte denn der Zeuge die Telefonnummer der Einsatzzentrale? Oder hat er 110 angerufen, oder was immer in Frankreich der Notruf ist. Hat man ihn dann auch erst gefragt, wo er wohnt, was er beruflich macht und wie er heißt? Hatte er Angst, als er diese heldenhafte Mission im Angesicht des Todes ausführte? Warum sieht man ihn nicht jeden Tag im Fernsehen, denn dieser Zeuge ist doch Gold wert?
Ein Telefon spielte auch bei dem farbigen Mann eine Rolle. Er soll nämlich sein Handy die ganze Zeit auf Empfang gehabt haben. Ja, das ist natürlich schlecht. Während der professionelle Killer, der ganz Paris in Atem hält, seine Untaten minutiös und kaltblütig umsetzt, vergisst er, sein Handy auszuschalten.
Was einen aber auch wundert, denn wenn ich in einer Situation bin, in der die ganze Welt mich jagt, telefoniere ich dann wirklich in der Gegend herum? Dann soll der farbige Dschihadist gefordert haben, dass man die zwei Männer in der Fabrikhalle freilässt. Er soll damit gedroht haben, dass er alle Geiseln tötet, wenn den beiden Brüdern in der Halle etwas geschieht.
Man sagte den Zuschauern dieses Dramas manchmal, dass es noch lange dauern könnte, bis die Terroristen einen Zugriff erleben würden. Dennoch erfolgte dann ein Zugriff zur besten Sendezeit, zumindest internationaler Zeitrechnung, der eigentlich als ein komplettes Desaster beschrieben werden kann.
Vier Geiseln tot. Alle Dschihadisten tot. Die Bilder vom Einsatz der Ordnungshüter wirkten auch verwirrend, wenn man die Theorie in Rechnung stellt, die dann behauptet wurde. Man sah Rauchblitze und Leuchtmunition über der Halle, behauptete aber, dass die Dschihadisten von allein aus der Halle gestürmt wären und dann erschossen worden wären. Warum es dann allerdings Rauchblitze gab, die angeblich die um sich schießenden Mörder blenden sollten, hielt auch der ehemalige Leiter der GSG 9 für eher unwahrscheinlich. Zumindest wurde angedeutet, dass es vielleicht auch nicht so war und die Kräfte das Gebäude gestürmt haben. Ganz genau wollte das aber auch kein Qualitätsjournalist wissen.
Mit einem Gesicht der offensichtlichen Erleichterung schienen die Journalisten das Vorgehen der Polizei zu bewundern. Alle Dschihadisten tot. Das war eben gute Arbeit. Niemand sagte, dass man niemals den Tod eines Menschen, egal wie schuldbeladen er sein mag, dass man niemals so etwas beklatschen sollte. Es ist zwar verständlich, dass man die Opfer zunächst für wichtiger und erwähnenswerter befindet, aber dann auch nicht gelungen, wenn viele unschuldige Menschen gestorben waren. Im Gegensatz zu dem Einsatz der GSG 9 in Mogadischu, bei dem keine Geisel starb, hätte man das Vorgehen der Einsatzkräfte eigentlich als dilettantisch bezeichnen müssen.
In dem Supermarkt sah man ein Vorgehen der Polizei, das irgendwie an einen Kamikazeeinsatz erinnerte. Angeblich griffen die Beamten dann zu, als der farbige Terrorist betete. Da sein Handy die ganze Zeit wie ein offenes Buch live aus dem Supermarkt berichtete, hatten die Einsatzkräfte diesen zeitnahen Zugriff zu der Fabrikstürmung gewählt.