Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Geschichte. Georg Wilhelm Friedrich Hegel
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Geschichte vereinigt in unsrer Sprache die objektive sowohl als subjektive Seite und bedeutet ebenso gut die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst; sie ist das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung. Diese Vereinigung der beiden Bedeutungen müssen wir für höherer Art als für eine bloß äußerliche Zufälligkeit ansehen: es ist dafür zu halten, dass Geschichtserzählung mit eigentlich geschichtlichen Taten und Begebenheiten gleichzeitig erscheine; es ist eine innerliche gemeinsame Grundlage, welche sie zusammen hervortreibt. Familienandenken, patriarchalische Traditionen haben ein Interesse innerhalb der Familie und des Stammes; der gleichförmige Verlauf ihres Zustandes ist kein Gegenstand für die Erinnerung, aber sich unterscheidende Taten oder Wendungen des Schicksals mögen die Mnemosyne zur Fassung solcher Bilder erregen, wie Liebe und religiöse Empfindungen die Phantasie zum Gestalten solchen gestaltlos beginnenden Dranges auffordern. Aber der Staat erst führt einen Inhalt herbei, der für die Prosa der Geschichte nicht nur geeignet ist, sondern sie selbst mit erzeugt. Statt nur subjektiver, für das Bedürfnis des Augenblicks genügender Befehle des Regierens erfordert ein festwerdendes, zum Staate sich erhebendes Gemeinwesen Gebote, Gesetze, allgemeine und allgemeingültige Bestimmungen und erzeugt damit sowohl einen Vortrag als ein Interesse von verständigen, in sich bestimmten und in ihren Resultaten dauernden Taten und Begebenheiten, welchen die Mnemosyne, zum Behuf des perennierenden Zweckes dieser Gestaltung und Beschaffenheit des Staates, die Dauer des Andenkens hinzuzufügen getrieben ist. Die tiefere Empfindung überhaupt, wie die der Liebe, und dann die religiöse Anschauung und deren Gebilde sind an ihnen selbst ganz gegenwärtig und befriedigend, aber die bei ihren vernünftigen Gesetzen und Sitten zugleich äußerliche Existenz des Staates ist eine unvollständige Gegenwart, deren Verstand zu ihrer Integrierung des Bewusstseins der Vergangenheit bedarf.
Die Zeiträume, wir mögen sie uns von Jahrhunderten oder Jahrtausenden vorstellen, welche den Völkern vor der Geschichtsschreibung verflossen sind und mit Revolutionen, mit Wanderungen, mit den wildesten Veränderungen mögen angefüllt gewesen sein, sind darum ohne objektive Geschichte, weil sie keine subjektive, keine Geschichtserzählung aufweisen. Nicht wäre diese nur zufällig über solche Zeiträume untergegangen, sondern weil sie nicht hat vorhanden sein können, haben wir keine darüber. Erst im Staate mit dem Bewusstsein von Gesetzen sind klare Taten vorhanden und mit ihnen die Klarheit eines Bewusstseins über sie, welche die Fähigkeit und das Bedürfnis gibt, sie so aufzubewahren. Auffallend ist es jedem, der mit den Schätzen der indischen Literatur bekannt zu werden anfängt, dass dieses an geistigen, und zwar in das Tiefste gehenden Produktionen so reiche Land keine Geschichte hat und darin aufs stärkste sogleich gegen China kontrastiert, welches Reich eine so ausgezeichnete, auf die ältesten Zeiten zurückgehende Geschichte besitzt. Indien hat nicht allein alte Religionsbücher und glänzende Werke der Dichtkunst, sondern auch alte Gesetzbücher, was vorhin als eine Bedingung der Geschichtsbildung gefordert wurde, und doch keine Geschichte. Aber in diesem Lande ist die zu Unterschieden der Gesellschaft beginnende Organisation sogleich zu Naturbestimmungen in den Kasten versteinert, so dass die Gesetze zwar die Zivilrechte betreffen, aber diese selbst von den natürlichen Unterschieden abhängig machen und vornehmlich Zuständigkeiten (nicht sowohl Rechte als Unrechte) dieser Stände gegeneinander, d. i. der höheren gegen die niederen, bestimmen. Damit ist aus der Pracht des indischen Lebens und aus seinen Reichen das Element der Sittlichkeit verbannt. Über jener Unfreiheit der naturfesten Ständigkeit von Ordnung ist aller Zusammenhang der Gesellschaft wilde Willkür, vergängliches Treiben oder vielmehr Wüten ohne einen Endzweck des Fortschreitens und der Entwicklung: So ist kein denkendes Andenken, kein Gegenstand für die Mnemosyne vorhanden, und eine, wenn auch tiefere, doch nur wüste Phantasie treibt sich auf dem Boden herum, welcher, um sich der Geschichte fähig zu machen, einen der Wirklichkeit und zugleich der substantiellen Freiheit ungehörigen Zweck hätte haben müssen.
Um solcher Bedingung einer Geschichte willen ist es auch geschehen, dass jenes so reiche, ja unermessliche Werk der Zunahme von Familien zu Stämmen, der Stämme zu Völkern und deren durch diese Ausdehnung herbeigeführte Ausbreitung, welche selbst so viele Verwicklungen, Kriege, Umstürze, Untergänge vermuten lässt, ohne Geschichte sich nur zugetragen hat; noch mehr, dass die damit verbundene Verbreitung und Ausbildung des Reiches der Laute selbst lautlos und stumm geblieben und schleichend geschehen ist. Es ist ein Faktum der Monumente, dass die Sprachen im ungebildeten Zustande der Völker, die sie gesprochen, höchst ausgebildet worden sind, dass der Verstand sich sinnvoll entwickelnd ausführlich in diesen theoretischen Boden geworfen hatte. Die ausgedehnte konsequente Grammatik ist das Werk des Denkens, das seine Kategorien darin bemerklich macht. Es ist ferner ein Faktum, dass mit fortschreitender Zivilisation der Gesellschaft und des Staates diese systematische Ausführung des Verstandes sich abschleift und die Sprache hieran ärmer und ungebildeter wird, – ein eigentümliches Phänomen, dass das in sich geistiger werdende, die Vernünftigkeit heraustreibende und bildende Fortschreiten jene verständige Ausführlichkeit und Verständigkeit vernachlässigt, hemmend findet und entbehrlich macht. Die Sprache ist die Tat der theoretischen Intelligenz im eigentlichen Sinne, denn sie ist die äußerliche Äußerung derselben. Die Tätigkeiten der Erinnerungen und der Phantasie sind ohne die Sprache unmittelbare Äußerungen. Aber diese theoretische Tat überhaupt wie deren weitere Entwicklung und das damit verbundene Konkretere der Völkerverbreitung, ihrer Abtrennung voneinander, Verwicklung, Wanderung bleibt in das Trübe einer stummen Vergangenheit eingehüllt; es sind nicht Taten des selbstbewusstwerdenden Willens, nicht der sich andere Äußerlichkeit, eigentliche Wirklichkeit gebenden Freiheit. Diesem wahrhaften Elemente nicht angehörend haben jene Völker ihrer Sprachentwicklung ungeachtet keine Geschichte erlangt. Die Voreiligkeit der Sprache und das Vorwärts- und Auseinandertreiben der Nationen hat erst teils in Berührung mit Staaten, teils durch eignen Beginn der Staatsbildung Bedeutung und Interesse für die konkrete Vernunft gewonnen.
c) Nach diesen Bemerkungen, welche die Form des Anfanges der Weltgeschichte und das aus ihr auszuschließende Vorgeschichtliche betroffen haben, ist die Art des Ganges derselben näher anzugeben; doch hier nur von der formellen Seite. Die Fortbestimmung des konkreten Inhalts ist Angabe der Einteilung.
Die Weltgeschichte stellt, wie früher bestimmt worden ist, die Entwicklung des Bewusstseins des Geistes von seiner Freiheit und der von solchem Bewusstsein hervorgebrachten Verwirklichung dar. Die Entwicklung führt es mit sich, dass sie ein Stufengang, eine Reihe weiterer Bestimmungen der Freiheit ist, welche durch den Begriff der Sache hervorgehen. Die logische und noch mehr die dialektische Natur des Begriffes überhaupt, dass er sich selbst bestimmt, Bestimmungen in sich setzt und dieselben wieder aufhebt und durch dieses Aufheben selbst eine affirmative, und zwar reichere, konkretere Bestimmung gewinnt, – diese Notwendigkeit und die notwendige Reihe der reinen abstrakten Begriffsbestimmungen wird in der Logik erkannt. Hier haben wir nur dieses aufzunehmen, dass jede Stufe als verschieden von der andern ihr bestimmtes eigentümliches Prinzip hat. Solches Prinzip ist in der Geschichte Bestimmtheit