Die Flüchtlinge und wir. Neue Osnabrücker Zeitung
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Von Olga Zudilin
Vor 22 Jahren ist Swetlana Jauk nach Deutschland ausgewandert. Seitdem führt sie ein Leben zwischen zwei Kulturen.
Das Erste, was Jauk in den Sinn kommt, wenn sie an ihre Kindheit in der zentralkasachischen Stadt Arkalyk denkt, ist die Kälte im Winter. „Minus 30 Grad Celsius und dazu ein eisiger Wind, der von der Steppe aus durch die Stadt fegt“, erinnert sich die 37-Jährige. Dabei zieht sie ihre Schultern zum Kopf und schüttelt sich, so als könne sie den Frost noch einmal spüren. Draußen habe so viel Schnee gelegen, dass sie als Kind mit ihren Spielkameraden ganze Schneeburgen bauen konnte. „So einen Winter wird mein Kind hier wohl nicht erleben“, sagt Jauk.
Damit dürfte sie recht haben. Seit 22 Jahren ist nämlich Osnabrück ihre Heimat. Hier lebt sie mit ihrem Ehemann und ihrem einjährigen Sohn. Hier besitzt sie einen Friseursalon und ist Chefin dreier Angestellter. Nicht selbstverständlich angesichts Jauks Migrationsgeschichte: Als 15-Jährige ist sie mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, ohne Sprachkenntnisse, ohne einen konkreten Zukunftsplan. Jauk ist Russlanddeutsche. Ihre Mutter und alle Verwandten mütterlicherseits sind Deutsche. „Die Vorfahren meiner Mutter sind vor circa 200 Jahren aus Hessen nach Russland ausgewandert. Sie waren Wolgadeutsche. Meine Mutter hat immer gehofft, dass die Familie in Deutschland zusammenkommt“, erzählt Jauk. Ihre Cousine habe viel über die Vorfahren recherchiert. Sie selbst wisse nicht so viel über die Familiengeschichte, sagt die Friseurin.
Jauk sitzt in ihrem Salon am Westerberg und erzählt über ihren Weg. Ganz Geschäftsfrau, ist sie seriös und elegant gekleidet: schwarze Jeans, schwarzer Blazer und eine weiß-schwarze Bluse. Ihre langen blonden Haare hat die zierliche Frau in einer halb offenen Frisur zusammengebunden. Wenn sie spricht, lächelt sie häufig. Über sich selbst zu erzählen fällt ihr schwer. Stolz sei sie auf das, was sie geschafft habe. Vor allem, weil der Weg nicht einfach gewesen sei. „Als wir in Deutschland angekommen sind, habe ich nur geheult“, sagt die Friseurin. Zukunftsängste und die Sehnsucht nach ihrer Heimat hätten sie geplagt, und überhaupt wollte sie mit ihren Eltern zunächst gar nicht mit in ein fremdes Land.
Nach der Ankunft in Deutschland hieß es zuerst: die Sprache lernen. „In Kasachstan haben wir immer nur Russisch gesprochen“, erzählt Jauk. Ihre Oma habe ihr zwar einige Kinderlieder auf Deutsch beigebracht, doch richtiges Deutsch habe sie nie gesprochen. Nach einem Sprachkurs und einem Berufsvorbereitungskurs ging die Ausbildungssuche los. „Ich bin von Salon zu Salon gegangen und habe in gebrochenem Deutsch nach einem Ausbildungsplatz gefragt.“ Eine Saloninhaberin habe ihr dann eine Chance gegeben. „Sie musste schon viel Geduld mit mir haben, denn meine Sprachkenntnisse waren damals wirklich nicht gut.“ Durch die Ausbildung lernte Jauk Deutsch. Mit der Sprache kamen Freunde und ein eigenständiges Leben. Die Sehnsucht nach ihrer alten Heimat war damit schnell verflogen.
Arkalyk habe sie seit der Auswanderung nicht mehr besucht, und auch der Kontakt mit Jugendfreunden sei eher rar – wenn, dann nur über Online-Netzwerke. Trotzdem gibt es Sachen, die Jauk an ihre Kindheit in Kasachstan erinnern. Das Fotoalbum mit Schwarz-Weiß-Bildern von ihr und ihrer Oma zum Beispiel. Oder Matrjoschka-Puppen, die sie von ihren Jugendfreunden aus Kasachstan als Abschiedsgeschenk bekommen hat. Und natürlich die Rezepte für russische Gerichte.
Heute fühlt sich Jauk in Deutschland hundertprozentig integriert. Vor ihrer Saloneröffnung im Februar 2009 war sie noch skeptisch: „Ich habe mich schon gefragt, ob ich hier angenommen werde“, sagt Jauk. Immerhin sei sie nicht in Deutschland geboren und spreche immer noch mit einem leichten Akzent. Richtige Probleme wegen ihres Migrationshintergrundes habe sie dennoch nie gehabt. Die Russlanddeutsche ist überzeugt: „Wenn man zeigt, dass man sich bemüht und hier etwas erreichen möchte, dann wird man von den Menschen angenommen.“
Bei der Frage, ob sich Jauk eher als Deutsche oder als Russin fühlt, wird die sonst so gesprächige Frau nachdenklich und ruhig. Darauf weiß sie keine richtige Antwort. „Tja, was bin ich?“, sagt Jauk und guckt dabei auf den Boden. „Ich weiß es auch nicht richtig. Irgendwie bin ich dazwischen.“
Erinnerungen an die Heimat: Swetlana Jauk mit Matrjoschka-Puppen, die sie von ihren Jugendfreunden aus Kasachstan als Abschiedsgeschenk bekommen hat. (Egmont Seiler)
Nihat und Mahmut Bucakli: Wie siebenjährige Dolmetscher
Von Frederik Grabbe
Was ist eigentlich möglich, wenn Menschen, die als Fremde im Land das Deutsche nicht beherrschen und in ihrem Spracherwerb gefördert werden? Die Brüder Nihat (24) und Mahmut Bucakli (22) sind vor 19 Jahren mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland geflohen. Ihr Lebensweg könnte eine Antwort auf diese Frage aufzeigen.
Beide kommen aus einer Familie, die zur Zeit der Flucht lediglich „die Kleider am Leib“ besaßen, wie die Brüder sich ausdrücken. Heute haben Nihat und Mahmut Bucakli studiert, Nihat schreibt gerade seine Bachelorarbeit und verbrachte ein Semester in den USA; Mahmut ist Verwaltungsinspektor bei der Bremer Senatorin für Soziales und mitverantwortlich für die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften.
„Wir sind stolz auf das, was wir erreicht haben“, sagt Nihat Bucakli, „bedenkt man die Verhältnisse, aus denen wir kamen“. 1996 flieht die kurdische Familie aus der Türkei und kommt zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft in Zeven unter. „Ich erinnere mich an die Ankunft am Bremer Bahnhof. Wir haben nichts verstanden, alles war ein einziger Geräuschebrei. Wir wussten nicht, wo wir waren, wir waren orientierungs- und hilflos“, sagt Mahmut. Doch beide sind fasziniert von der Straßenbahn und von geschmückten Weihnachtsbäumen. „So etwas kannten wir bis dahin nicht“, sagt Nihat.
Der Weg führt die Familie nach Schiffdorf bei Bremerhaven. Im Kindergarten nimmt Nihat die ersten Brocken Deutsch auf und versucht sie seinem Bruder weiterzugeben. „Mein Vater hat damals Videos für die Verwandtschaft in der Türkei gedreht. Heute sehen wir darin, wie ich meinem Bruder falsche Wörter beigebracht habe“, sagt Nihat. An seinem ersten Tag in der Vorschule geht Nihat, der kaum ein Wort Deutsch spricht, schon in der Pause nach Hause, weil er denkt, die anderen Kinder verließen die Schule.
Erst in Delmenhorst, wo der Vater mittlerweile Arbeit gefunden hat, erhalten beide Hilfestellung: In der Grundschule an der Beethovenstraße kommen Nihat und Mahmut in eine Sprachförderklasse. Und sie lernen schnell. Später werden beide Deutsch als Leistungskurs im Abitur wählen. Trotzdem müssen sie sich früh mit Beamtendeutsch herumschlagen. Briefe von der Schule sowie Schreiben von der Stadt müssen für die Eltern übersetzt werden. „Wir waren wie siebenjährige Dolmetscher“, scherzt Mahmut. Doch viele Begriffe sind zu kompliziert, die Brüder müssen die Nachbarn um Hilfe bitten.
Die beiden übernehmen früh Verantwortung – und so auch die Angst der Eltern, ausgewiesen zu werden. „Wir haben immer leise miteinander geredet, leise gespielt, aus Angst, dass es zu Problemen führen könnte“, beschreibt Nihat. Geradezu eine Erlösung ist es, als die Familie nach langer Wartezeit eingebürgert wird. Eltern, Brüder und Geschwister schwören auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung Deutschlands. Die Brüder helfen noch einmal bei der Übersetzung. Jeder soll zweifelsfrei verstehen, was der Eid bedeutet.
Doch nicht alles läuft reibungslos auf dem Lebensweg der Bucaklis: Die Grundschule war ein heiler Ort, „wir haben dort in keiner Weise erfahren, was Rassismus ist“, sagt Mahmut. Das ändert sich später auf dem Gymnasium. Obwohl ihr Notenschnitt ordentlich ist, kommen sie dort mit der Schulleitung und vereinzelt mit Lehrern nicht klar, Nihat und Mahmut fühlen sich diskriminiert. Nach dem Wechsel auf ein Gymnasium in Bremen-Hemelingen läuft es besser. Nihat studiert danach Handelsmanagement in Ingolstadt, Mahmut Public Administration in