Homo sapiens movere ~ geschehen. R. R. Alval
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„Das Militär hat keine Chance, oder?
„Nein. Dafür sind wir zu viele. Es sind nicht nur wir Werwesen und die Vampire, die sich outen, Chantalle.“ Ich schluckte. Mein Gesicht verriet meine Panik. „Ich muss meinen Bruder finden. Mom, Paps, meine Schwester. Wir haben einen Treffpunkt.“ Eric und Thea sahen sich an. „Das Sommerhaus?“ Wow, die waren wirklich gut informiert. „Lang wird der Umbruch nicht dauern. Eine Woche; maximal. Dann könnt ihr aufbrechen. Im Moment jedoch seid ihr bei uns am sichersten.“ Theas Worte klangen sanft. Deren Inhalt jedoch alles andere als das.
Umbruch? Ich schluckte unsicher. Was da draußen passierte, war eine Katastrophe!
Noch nie hatte ich so viel Gewalt erlebt. So viele Tote gesehen.
Im Grunde war ich nie nah am Wasser gebaut. Doch jetzt brachen der Kummer, die Angst und die Ungewissheit mit einem wahren Sturzbach an Tränen aus mir heraus.
Eric ließ uns allein.
Thea zog mich in ihre Arme, rieb mir sacht mit den Händen über den Rücken und ließ mich weinen. Nach einigen Minuten verebbten meine Tränen. Zurück blieben ein paar verhaltene Schluchzer. „Komm. Du bist sicher hungrig. Roy kann später mit den Jungs essen.“ Ich nickte, auch wenn mir kein bisschen nach Essen war. Allerdings war mein knurrender Magen anderer Meinung. Umso überraschter war ich über die Torte, die Kerzen, die Blumen und ein kleines Geschenkpaket. Mit offenem Mund blieb ich an der Küchentür stehen. „Happy Birthday, Chantalle.“ Sie hatten es gewusst! Hatten gehofft mich zu finden; in Sicherheit zu bringen. Erneut wollten meine Tränendrüsen ihre Arbeit aufnehmen. Ich zwang sie zurück. „Danke. Ich weiß gar nicht, was ich sagen…“ Thea winkte ab. „Nicht nötig. Es ist dein Geburtstag, auch wenn draußen gerade alles irgendwie den Bach runtergeht. Oh…“, sie räusperte sich, „… Sag Eric bloß nicht, dass ich das gesagt habe.“ Ich nickte, ein kleines Lächeln auf dem Gesicht. „Komm. Ein Stück Torte? Du kannst auch gern was Herzhaftes bekommen. Ist ja eigentlich fast Abendbrotzeit.“
„Ein Stück Torte klingt hervorragend.“ Thea nickte, schnitt die Torte an und legte uns beiden je ein Stück auf einen Teller. „Mom, ich nehm auch eins.“, vernahm ich die Stimme der Jüngsten. „Oh, ich auch.“, folgte sofort die meiner anderen Cousine. Leise lachend schnitt Thea auch denen je ein Stück ab, legte sie auf Teller und stellte diese auf den Tisch. „Will irgendjemand Kaffee?“ Ein dreistimmiges Ja hallte durch die Küche. Alsbald standen vier dampfende Tassen auf dem Tisch. Das Geklapper der Kuchengabeln wurde von kurzweiligem Plaudern übertönt. Ich fühlte mich behaglich. Fast wie… nun ja, zu hause. Trotz der alles andere als glücklichen Umstände, die mich hierher geführt hatten.
Natürlich machte ich mir Sorgen um meine Familie. Doch so nett, wie ich hier aufgenommen wurde, konnte ich das für ein paar Augenblicke vergessen. Oder zumindest in den Hintergrund drängen.
Plötzlich drehten die jungen Frauen alarmiert den Kopf zur Seite und sprangen auf. Ich sah Thea an, die wohl ebenso wenig hörte wie ich. Allerdings wesentlich schneller reagierte. Bei ihrem Ton zuckte sogar ich zusammen. „Audrey Teresa Lucia Weißhaupt, du bleibst hier!“
„Moooom!“
„Nichts da. Du bist noch keine 18. Punkt und aus. Und du…“, Thea wandt sich ihrer anderen Tochter zu, „…sei vorsichtig!“
Schmollend und mit rollenden Augen plumpste Audrey wieder auf ihren Stuhl. Marlene, die ältere meiner Großcousinen, raste aus der Küche. „Papa kommt doch auch mit.“ Thea presste fest die Lippen zusammen. „Dein Vater, die Jungs und deine große Schwester sind erfahrener als du. Ich weiß, das hörst du nicht gern. Aber wie wirst du dich fühlen, wenn einer von ihnen verletzt wird, weil sie dich schützen?“ Ich sah, wie der Teenager die Hände zu Fäusten ballte. Allerdings nickte sie. Offensichtlich gefiel ihr diese Vorstellung noch weniger. „Was ist da draußen los?“ Nach wie vor hörte ich nichts. Thea seufzte, Audrey antwortete. „Ärger.“ Sie schien immer noch wütend zu sein. Immerhin war sie zur Tatenlosigkeit verdonnert. „Ich bin froh, dass du hier bist.“, sagte ich deshalb diplomatisch. „Du bist quasi unsere letzte Verteidigungslinie. Deine Mutter und ich könnten natürlich auch mit Pfannen und Tiegeln um uns schlagen. Aber ich bezweifle, dass das ernsthaften Schaden anrichtet.“ Audrey lachte leise. „Sähe bestimmt lustig aus.“ Theas Lippen zuckten verräterisch. „Na gut. Du kannst vor die Tür gehen, wenn dir das lieber ist. Aber bleib bitte in der Nähe.“ Audrey nickte. Wie ein Blitz eilte sie hinaus. Thea atmete geräuschvoll aus. Ihr Gesicht voller Sorgen. „Es ist schwer, anders zu sein. Meistens stört es mich nicht. In solchen Situationen jedoch…“ Sie schluckte.
Trotz der fühlbaren Anspannung ließ ich mir die Torte schmecken. Ich war hungrig. Außerdem war mein Geburtstag!
„Welche Art Ärger meinst du, ist da draußen?“ Thea zuckte mit den Achseln und schob sich ein Stück Torte in den Mund. „Keine Ahnung. Sicher ein paar vom Rudel, die noch nicht wissen, dass Roy und du zur Familie gehören.“ Jetzt war ich diejenige, die zusammenzuckte. „Das spricht sich wohl nicht so schnell rum, hm?“ Thea lächelte. „Theoretisch schon. Aber es gibt immer ein paar Klugscheißer. Kennst du doch. Teenager vermutlich.“ Ah ja… eine Gang. Sowas kam also auch bei Werwölfen vor? Wenig beruhigend. Gleichsam kam mir ein anderer verstörender Gedanke. „Wenn Roy sich verteidigt und einer aus dem Rudel stirbt, was dann?“ Meine Tante runzelte die Stirn. „Nimm’s mir nicht übel, Chantalle. Aber ein Mensch gegen Werwölfe? Da muss er schon sehr viel Glück haben. Die sind verflixt schnell. Ganz zu schweigen von deren Kraft.“
„Abgesehen von Kraft und Geschwindigkeit… äh… sind sie feuerfest? Immun gegen Eiseskälte? Und ich meine solche Kälte, die Metall brüchig macht.“ Thea lächelte verschmitzt. „Roy ist ein movere? Nun, dann könnte er tatsächlich Glück haben. Es ist Notwehr. Die gilt auch im Rudel als solche. Beantwortet das deine Frage?“ Hm. Immerhin eine gute Nachricht. Dennoch machte ich mir Sorgen um Roy. Den Exfreund meiner Freundin. Mit dem mich sonst überhaupt nichts verband. Thea mochte meine Tante sein. Doch inwiefern konnte ich ihr diesbezüglich trauen? Was, wenn Roys Schutz aufgehoben wurde, weil wir zwei nicht liiert waren? Ich entschied mich darüber Stillschweigen zu bewahren. Schadete keinem.
Umso perplexer war ich, als sie meine Zweifel aussprach. „Wir sind ganz gut über dich informiert, Chantalle. Bis vorgestern hattest du keinen Freund. Allerdings scheinst du ihn zu kennen.“ Ich atmete hörbar aus. So schnell war die Katze aus dem Sack. Schön. Also konnte ich Thea ebenso gut aufklären. „Magst du ihn?“ Ihn mögen? Dafür kannte ich ihn zu wenig. Obendrein war er ein movere. Möglicherweise – nein – ganz bestimmt gefährlich. Aber auch für mich? „Äh… mögen… naja, er ist der Freund“, ich korrigierte mich, „Exfreund meiner Freundin.“ Thea nickte. „Und? Gefällt er dir oder nicht?“ Das war eine verzwickte Frage. Eine, mit der ich mich im Moment nicht auseiander setzen wollte. Also zuckte ich nur mit den Achseln. Thea starrte mich an. Um eine Antwort kam ich wohl nicht herum. „Geht so.“, sagte ich leise, was sie glucksend lachen ließ. Warum kam ich mir wie ein ertappter Teenager vor? Als steckte hinter Theas Frage etwas anderes als das allgemein Ersichtliche.
Ein lautes Krachen der Haustür vertrieb dieses Gefühl. Unmittelbar vor dem Küchentisch kam ein riesiger Wolf zum Stehen. Mein Herz klopfte in meinen Ohren. Aus reinem Reflex sprang ich auf und versuchte mich in Sicherheit zu bringen. Erst da bemerkte ich, dass um den Wolf ein wahrer Funkenregen ausbrach.