Nostromo. Joseph Conrad

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Nostromo - Joseph Conrad

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der Höhe seiner langen Beine in sichtlicher Zufriedenheit mit ihrer Erscheinung auf sie herunter. Das Bewußtsein, so angesehen zu werden, behagte Frau Gould.

      »Es sind sehr bedeutende Leute«, sagte er.

      »Ich weiß. Aber hast du auch ihren Reden zugehört? Sie scheinen nichts von allem verstanden zu haben, was du ihnen gezeigt hast.«

      »Sie haben die Mine gesehen, und davon haben sie sicherlich etwas verstanden«, warf Charles Gould ein, in Verteidigung der Gäste; und dann nannte seine Frau den Namen des Bedeutendsten der drei, er war als Finanzmann wie als Industrieller bedeutend. Sein Name war vielen Millionen Menschen vertraut. Er war so bedeutend, daß er niemals so weit von seinem Arbeitsgebiet weggereist wäre, hätten ihm nicht die Ärzte mit versteckten Drohungen zu einem längeren Urlaub zugeredet.

      »Herrn Holroyds religiöses Gefühl«, fuhr Frau Gould fort, »nahm empörten Anstoß an den buntgeschmückten Heiligen in der Kathedrale. Er sprach von Götzendienst vor Holz und Flitterkram. Aber mir kam es vor, daß er seinen eigenen Gott als etwas wie einen einflußreichen Partner betrachtete, der seinen Gewinnanteil in Form immer neuer Kirchenbauten bezieht. Auch das ist eine Art von Götzendienst. Er hat mir gesagt, daß er jedes Jahr einige Kirchen stiftet, Charley.«

      »Kein Ende davon«, sagte Herr Gould und staunte innerlich über die Beweglichkeit ihres Gesichts. »Über das ganze Land. Er ist berühmt für diese Art von Freigebigkeit.«

      »Oh, er rühmt sich nicht«, erklärte Frau Gould gewissenhaft. »Ich glaube, er ist wirklich ein guter Mensch – aber so beschränkt! Ein armer Chulo, der einen kleinen Arm oder ein Bein aus Silber opfert, um seinem Gott für eine Heilung zu danken, ist genau so vernünftig und dabei ergreifender.«

      »Er vertritt ungeheure Eisen- und Silberinteressen«, bemerkte Charles Gould.

      »O ja! Die Religion von Silber und Eisen. Er ist ein sehr höflicher Mann, obwohl er furchtbar feierlich dreinschaute, als er zuerst die Madonna im Stiegenhaus erblickte, die ja nur bemaltes Holz ist; aber er hat keine Bemerkung gemacht. Mein lieber Charley, ich habe diese Leute untereinander reden hören. Ist es möglich, daß sie wirklich den Wunsch haben, gegen einen ungeheuren Lohn Wasserträger und Holzfäller zu werden für alle Länder und Völker der Erde?«

      »>Ein Mann muß auf ein Ziel hinarbeiten«, meinte Charles Gould obenhin.

      Frau Gould runzelte leicht die Brauen und besah sich ihn von Kopf zu Fuß. In seinen Reithosen, den Ledergamaschen (einem Kleidungsstück, das nie zuvor in Costaguana gesehen worden war), einem Norfolkrock aus grauem Flanell und mit dem mächtigen, flammroten Schnurrbart erinnerte er weit eher an einen Kavallerieoffizier, der sich auf seine Güter zurückgezogen hat. Der gesamte Eindruck sagte Frau Goulds Geschmack zu. »Wie mager der arme Junge ist«, dachte sie. »Er überarbeitet sich.« Doch war es nicht zu leugnen, daß sein feingeschnittenes, kühnes, rotes Gesicht und die ganze langgliedrige Erscheinung den Eindruck von Vornehmheit erweckten. Und Frau Gould lenkte ein.

      »Ich wollte nur wissen, was du dabei fühltest«, murmelte sie.

      Nun war Charles Gould während der letzten zwei Tage viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, zweimal nachzudenken, bevor er sprach, als daß er hätte seinen Gefühlen übergroße Aufmerksamkeit zuwenden können. Da er sich aber mit seiner Frau gut vertrug, so fand er ohne Schwierigkeit eine Antwort.

      »Die besten meiner Gefühle sind in deiner Obhut, meine Liebe«, sagte er unbefangen; und in diesem etwas dunklen Satz lag so viel Wahrheit, daß er im Augenblick für die Frau eine vertiefte, dankbare Zärtlichkeit empfand.

      Frau Gould übrigens schien die Antwort durchaus nicht dunkel zu finden. Ihr Gesicht hellte sich auf; doch er hatte schon den Ton gewechselt.

      »Aber es gibt eben Tatsachen. Der Wert der Mine – als Mine – steht außer Frage. Sie wird uns sehr reich machen. Die Einrichtung des bloßen Betriebs hängt von technischen Kenntnissen ab, die ich habe – die zehntausend andere Männer in der Welt auch haben. Die Sicherheit aber, das Fortbestehen des Unternehmens, das Leuten – Fremden, in gewisser Beziehung –, die Geld hineinstecken, Gewinn abwerfen soll: die sind ganz in meine Hände gegeben. Ich habe einem reichen, angesehenen Mann Vertrauen eingeflößt. Das scheint dir ganz natürlich, nicht wahr? Nun, ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wieso es gekommen ist; aber es ist Tatsache. Diese Tatsache macht alles möglich, denn ohne sie wäre gar nicht daran zu denken, die Wünsche meines Vaters außer acht zu lassen. Ich hätte nie über die Konzession verfügt – so wie etwa ein Börsenspieler ein kostbares Betriebsrecht verwertet – gegen Bargeld und Aktien, um vielleicht, wenn möglich, reich zu werden, jedenfalls aber, um sofort bares Geld in die Tasche zu bekommen. Nein. Selbst, wenn es tunlich gewesen wäre – was ich bezweifle –, hätte ich es nicht getan. Der arme Vater hat es nicht verstanden. Er fürchtete, ich würde mich an das elende Ding hängen, auf eine solche Gelegenheit warten und dabei mein Leben verzetteln. Das war der eigentliche Grund seines Verbots, das ich mit Überlegung übertreten habe.«

      Sie schritten den Corrédor auf und nieder. Der Kopf der Frau reichte gerade zu seinen Schultern. Sein niederhängender Arm lag um ihre Hüften. Seine Sporen klirrten leise.

      »Er hatte mich zehn Jahre lang nicht mehr gesehen. Er kannte mich nicht. Er hat sich zu meinem Besten von mir getrennt und wollte mich durchaus nicht zurückkommen lassen. In seinen Briefen sprach er immer davon, von Costaguana wegzugehen, alles im Stich zu lassen und zu entfliehen. Aber er war eine zu kostbare Beute. Sie hätten ihn beim ersten Verdacht in eines ihrer Gefängnisse geworfen.«

      Wieder klirrten die Sporen. Er beugte sich im Gehen über seine Frau. Der große Papagei sah ihnen aus schräggehaltenem Kopf mit großen, starren Augen nach.

      »Er war ein einsamer Mann. Schon als ich zehn Jahre alt war, pflegte er mit mir wie mit einem Erwachsenen zu reden. Während ich in Europa war, schrieb er mir jeden Monat. Zehn, zwölf Seiten jeden Monat meines Lebens, durch zehn Jahre, und schließlich kannte er mich doch nicht! Denk' doch nur – zehn volle Jahre fort; die Jahre, in denen ich zum Mann wurde. Er konnte mich nicht kennen. Oder glaubst du, daß es möglich war?«

      Frau Gould schüttelte verneinend den Kopf – wie es ihr Mann, angesichts der Kraft seiner Beweisgründe, nicht anders erwartet hatte. Sie aber schüttelte verneinend den Kopf einfach deshalb, weil ihrer Ansicht nach niemand ihren Charley – als das, was er wirklich war – kennen konnte, außer ihr selbst. Das war unverkennbar, man konnte es mit Händen greifen. Es brauchte keinen Beweis, und der arme Herr Gould, der Vater, der zu früh gestorben war, als daß er noch von ihrer Verlobung hätte erfahren können, blieb für sie eine zu schattenhafte Gestalt, als daß sie ihm besonderes Wissen irgendwelcher Art hätte zutrauen mögen.

      »Nein, er hat es nicht verstanden. Nach meiner Meinung hätte diese Mine nie einfach nur eine verkäufliche Sache sein können. Niemals! Nach all dem Jammer, den der alte Herr durchzumachen hatte, hätte ich die Sache niemals nur für Geld allein angehen mögen«, fuhr Charles Gould fort, und sie lehnte zustimmend ihren Kopf an seine Schulter.

      Diese beiden jungen Leute gedachten des Lebens, das so jammervoll geendet, als gerade sie beide einander in all dem Glanz hoffnungsfroher Liebe gefunden hatten, die selbst den besonnensten Gemütern als ein Triumph des Guten über alle Übel der Erde erscheint. Der unbestimmte Gedanke einer Rechtfertigung hatte sich in ihren Lebensplan gedrängt. Daß er so unbestimmt war, um selbst der Stütze eines Beweisgrundes entraten zu können, machte ihn um so stärker. Er war in dem Augenblick vor ihnen aufgetaucht, in dem das Hingabebedürfnis der Frau und der Tatendrang des Mannes aus dem schönsten aller Träume ihren stärksten Antrieb empfingen. Eben das Verbot machte den Erfolg zur Pflicht. Es war, als hätten sie sich sittlich verpflichtet gefühlt, ihre eigene kraftvolle Lebensanschauung gegenüber dem aus müder Verzweiflung

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