Uppers End. Birgit Henriette Lutherer
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„Das glaube ich auch Linda“, pflichtete Kanep Linda bei. „So wie die unseren Blicken ausweichen und verschämt auf den Boden gucken, sehen sie eher aus, als wünschten sie sich besser nicht hier sein zu müssen. Linda, wer ist denn der bucklige Mann, der da vorne neben der ollen Martha steht?“
„Das ist mein Opa, Kanep!“
„Ach der ist das! Na warte! Du verdammter Kerl! Du hast Glück, dass wir uns bisher nie begegnet sind.“ Kanep drohte ihm mit seiner Faust.
„Na, na, nimm dich zusammen!“ Upper rief Kanep zur Ordnung auf. „Ich weiß, du bist noch voller Quod, aber das gibt dir keinen Freischein! Du bleibst mal schön bei Linda und beruhigst dich. Ach ja, Kanep, du kommst übrigens genau zum richtigen Zeitpunkt. Tomasin wollte Linda gerade berichten, welche Schattenaspekte er dir bei deiner Abreise gegeben hatte. Nun Tomasin, fang endlich an!“
„Na endlich“, stöhnte Tomasin erleichtert. „Wo war ich noch stehengeblieben? Ach ja, ich hab´s wieder! Der erste Aspekt deines Schattens, Kanep …“ Wieder brach Tomasin ab. „Was tuschelt ihr denn da?! Linda! Kanep! Ich muss doch bitten!“
„Tschuldigung, Tomasin. Ich hab` Kanep nur rasch die Sache mit dem Schatten und seinem Archetyp erklärt. Bin schon fertig damit!“
„Ähem“, mit deutlichem Unmut über die ständigen Unterbrechungen, fuhr Tomasin fort: „Sein erster Schattenaspekt ist der, der Domina.
Er beinhaltet etwas sehr Vernichtendes. Der Schatten besitzt Aspekte von Zorn und anarchistischer Kraft. Im Domina-Aspekt besteht man darauf, dass sich alles in der Welt nur um einen selbst dreht. Man ist herrisch und überheblich, launisch, genussversessen und fordernd. Es kann sogar sein, dass man grausam, hartherzig und rücksichtslos handelt. Wenn ein Mann den Aspekt der Domina hat, überträgt er diese Eigenschaften gerne auf Frauen in seiner Umgebung. Besitzt der Mann selber einen relativ hohen weiblichen Anteil, kann es sein, dass er diesen Aspekt sowohl weitergibt als auch selber lebt.“
„Oje!“ Kanep fuhr fürchterlich zusammen. Viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. „Deshalb war das also …, darum war ich … - jetzt wird mir einiges klar.“ Kanep schwieg, schüttelte aber immer wieder unwirsch seinen Kopf, während er augenscheinlich nachdachte.
„Kaneps zweiter Aspekt“, setzte Tomasin ungeachtet Kaneps Reaktion fort „ist der des Bedürftigen. Der Bedürftigen-Aspekt ist ein Schatten der Schwäche. Derjenige, der diesen Aspekt auslebt, hat oft Furcht vor sich selbst, vor seiner Größe, vor seiner Lebensaufgabe, vor anderen und Angst davor Entscheidungen zu treffen und seinen eigenen Weg zu gehen. Er tut sich schwer damit, Verantwortung für sein Leben und für sich selbst zu übernehmen. Wegen seiner vermeintlichen Schwäche, wegen hypochondrischer Episoden oder wegen seiner Verletzung…“
„Zum Beispiel: Vernachlässigung durch die Eltern“, Fridolin schaute Gisela und Olaf streng an.
„…meint er“, setzte Tomasin fort, „andere müssten sich deshalb besonders intensiv um ihn kümmern. Gleichzeitig lehnt der Bedürftige aus falschem Stolz heraus andere aus seiner Umgebung oder gar sich selber ab, sodass es zu einer fortlaufenden Verkettung von Disputen kommt.“
„Sonst noch was?! Du hast aus mir einen Freak gemacht! Du bist ein ganz gemeiner Kerl Tomasin!!!“ Kanep war frustriert. Verzweifelt verbarg er sein Gesicht in seinen Händen. Niemand sollte mitbekommen, wie er mit seinen Tränen rang. Tomasin schien das wenig zu berühren. Er blickte in die Runde und schien sogar Lob für seine getroffene Auswahl des Schattens von Kanep zu erwarten. Doch die Anwesenden starrten ihn nur entgeistert mit großen Augen und geöffneten Mündern an. Sie konnten nicht fassen, was sie da zu hören bekamen. Einige fingen an nachzudenken. Sie fragten sich, welchen Schatten Tomasin ihnen womöglich damals mitgegeben hatte, als sie zur Erde reisten.
„Gisela fasste sich ein Herz: „Tomasin, ich frage mich, welchen Schatten du mir damals mit auf den Weg gegeben hast? Wenn ich mir so anhöre, was du meinem Sohn angetan hast, frage ich mich, welche Gemeinheit du dir für mich ausgedacht hattest?“
„Gisela, das sind keine Gemeinheiten“, verteidigte sich Tomasin. „Dem ein oder anderen scheint das mies oder ungerecht vorkommen, aber glaubt mir, ich mach das nicht zu meinem Vergnügen. Ich wähle jeden Schatten mit Bedacht aus - quasi maßgeschneidert auf eure gewählte Aufgabe. Wenn ihr mir nicht glaubt, Upper wird euch das bestätigen.“ Wieder schaute Tomasin hilfesuchend zu Upper hinüber.
„Ja, es stimmt, was Tomasin sagt. Er ist ein ehrenwertes Mitglied unserer Triade, genau wie ich es bin und natürlich Fridolin auch. Ihr könnt unserer Triade vertrauen. Habe ich euch je belogen oder im Stich gelassen?“
Linda zweifelte an Uppers Worten. „Ich bin mir da nicht so ganz sicher. Auf der Erde habe ich mich von dir oft verlassen gefühlt, Upper.“
„Papperlapapp! Das war die pure Einbildung eines Menschen. Glaub mir, niemals verlasse ich, Upper, der Bibo, eins meiner Seins. Wenn ihr das Gefühl der Verlassenheit gespürt haben solltet, so lag das nur an eurer Aufgabe. Linda, ich möchte hier gar nicht anzweifeln, dass du dich eventuell von mir verlassen gefühlt haben könntest – das mag sein – aber glaube mir, ich war immer bei dir. Du hattest dich bei deiner Abreise entschieden diese Erfahrung zu machen.“
„Du willst damit sagen Upper, ich wollte das spüren? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“
„Doch, doch, glaub´ s nur.“
„Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Eins will ich dir aber sagen: Ich habe arge Zweifel!“ Tiefes Schweigen senkte sich in die Debatte.
Gisela nutzte die Gunst der Ruhe. „Sag mal Upper, verrätst du mir auch, welchen Schatten ich von Tomasin bekam?“
„Tut mir leid Gisela, das kann natürlich nur Tomasin selber tun. Ich bin für den Archetyp zuständig. Aber von meiner Seite aus, habe ich nichts dagegen. Allerdings verhält es sich so, dass es Lindas Erfahrungsbericht ist. Ausnahmsweise habe ich wegen ihres besonderen Lebens zugestimmt, diese internen, vertraulichen Dinge preiszugeben. Da musst du deshalb Linda fragen.“
Linda wartete erst gar nicht Giselas Frage ab. „Eigentlich hast du es gar nicht verdient Gisela. Aber ich denke, es ist wichtig für mich, von allen an meinem Leben beteiligten hier, sowohl von ihrem Archetyp als auch von ihren Schatten Kenntnis zu erhalten. Nur so klärt es sich für mich - glaube ich. Da ihr nun mal alle hier seid, habe ich nichts dagegen, wenn ihr zuhört. Mir geht es ums Aufdecken. Ich will wissen, was in meinem Leben auf der Erde los war. Ich will Gerechtigkeit und Genugtuung – für mich und für Kanep. Ich fühle mich schändlich betrogen, belogen, verraten und hintergangen. Ich kann natürlich nur für mich sprechen, aber ich denke, Kanep ergeht es ähnlich – oder?“ Linda schaute Kanep an. Betrübt stand er neben ihr und blickte immer noch auf den Boden. „Linda traut sich was“, dachte er. „Bietet dem Bibo die Stirn und beginnt hier alle bloßzustellen“. Dennoch, Kanep war ungeachtet seiner eigenen Frustration überwältigt, wie taff Linda versuchte, ihre Angelegenheiten zu klären. „Ich wusste ja schon auf der Erde, wie wütend und aufgebracht du warst, als du einige Dinge über deine Familie herausgefunden hattest. Dass du jetzt tatsächlich deine Ankündigung wahrmachst, das hätte ich dir, ehrlich gesagt, nicht zugetraut Linda. Chapeau, Linda, alle Achtung!“ Kanep war seine Bewunderung anzusehen. „Natürlich bin ich auch jetzt ganz bei dir, mein Schatz.