Uppers End. Birgit Henriette Lutherer
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„Du sprachst davon, Kanep hatte meinen Schatten in seinem Reisegepäck. Ich möchte gerne wissen, welchen Schatten mir Tomasin gegeben hatte. Und, wenn wir schon mal dabei sind: Welchen Archetyp und welchen Schatten hatte Kanep selbst?“
„Da fragst du am besten Tomasin. Er weiß es ja am besten. Und was Kanep
anbelangt, da muss ich erst noch nachdenken, ob ich dir das erzählen möchte.“
„Upper?! Darf ich dich daran erinnern, dass du an meinem verkorksten Leben nicht ganz unschuldig warst?“ Linda stand mit verschränkten Armen vor Upper, wippte ungeduldig mit ihrem rechten Fuß, zog ihre linke Augenbraue hoch und schaute dabei Upper sehr bestimmend in die Augen.
„Okay, ist schon gut, ich mach´s, ich erzähl es dir, Linda. Aber guck mich nicht mehr so an! Wenn du mich so streng ansiehst, könnte ich fast Angst vor dir bekommen. Mit dem Blick könntest du glatt Hexen und Teufel verjagen.“
„Ja, das kann ich auch!“ Während sie das sagte, lugte sie zu Heinrich und Martha hinüber. Wieder zuckten die beiden zusammen als sich Lindas und ihre Blicke trafen. Nur Hannah nickte Linda bestätigend zu.
„Tomasin, verrate Linda bitte, welchen Schatten du ihr mitgegeben hast“, forderte Upper Tomasin auf.
„Aber Upper, das geht doch nicht! Ich kann doch nicht einfach so aus dem Nähkästchen plaudern. Da könnte ja jeder daher spaziert kommen und Einsicht in seine Akte verlangen. Schließlich sind das Geheimsachen.“
„Tomasin, ich gebe dir vollkommen Recht. Nur in diesem Fall müssen wir, ich betone: müssen wir eine Ausnahme machen. Wir haben es hier mit einem Sonderfall zu tun. Noch nie zuvor ist jemand mit der Erinnerung an Zuhause auf der Erde gewesen.“
„Upper, da irrst du dich! Hast du nicht Inos …“ Weiter kam Tomasin nicht.
„Tomasin, schweig! Kein Wort! Ich will nicht mehr darüber sprechen!!! Du wirst Linda jetzt alles erzählen, was sie wissen möchte. Nicht mehr und nicht weniger – verstehst du? Schließlich hat sie viel mitgemacht. Und sie hat nicht mal mit ihrer Herkunft geprahlt. Das nenne ich tapfer! Deshalb darf sie alles wissen, was sie möchte. Auch über diejenigen, die maßgeblich auf der Erde bei ihr waren, darf sie Fragen stellen.“ Ein Raunen erhob sich. Es kam von den Anwesenden Zurückgekehrten, die Linda empfangen mussten. Sie schienen von Uppers Anweisung nicht gerade begeistert zu sein.
„Gut, wenn du das so willst, Upper?“
„Ja! Ich will das so, Tomasin! Nun mach endlich! Gib Linda die gewünschte Auskunft! “
„Aber nicht mehr!“ Tomasin stampfte trotzig mit seinem Fuß auf. Ganz so,
als wolle er damit seinem Unmut über Uppers Anweisung Luft machen.
„Ich sagte dir doch Tomasin, nicht mehr und nicht weniger.“ Upper zwinkerte Tomasin mit leicht verschwörerischem Gesichtsausdruck zu.
„Tja, Linda“, begann Tomasin „dein Schatten besteht, genau wie dein Archetyp, aus drei Aspekten. Jeder Aspekt beinhaltet einen negativen Gegenpol zum Archetyp. Da ist zunächst als erster Schatten der Knauser.“
„Was?! Ich soll geizig gewesen sein?! Ich glaube jeder hier wird dir bestätigen können, dass ich alles andere war als das. Tomasin, das ist eine unverschämte Verleumdung!“
„Mensch, Linda! Jetzt reg dich nicht so auf. Ich sagte, ich hatte dir den Schatten des Knausers gegeben. Das heißt noch lange nicht, dass du ein Geizhals warst. Hast du eben nicht richtig zugehört, als Upper Hannah die Sache erklärt hat?!“
„Leute, hört auf euch so anzukeifen! Kommt mal wieder runter! Linda, Tomasin hat Recht. Aber ich erkläre es dir gerne noch einmal: Tomasin gab dir den Schatten des Knausers – ja. Ich hatte dir den Archetyp der hilfsbereiten Gönnerin mitgegeben – so. Du hattest in deinen ersten gut zwanzig Jahren nur deinen Archetyp gelebt. Nachdem du von Kanep deinen Schatten bekommen hattest, stand dir auch der Knauser zur Verfügung. Das hatte für dich zur Folge, dass dir auf einmal all die Leute bewusst wurden, die geizig waren. Sie sind dir sehr unangenehm aufgefallen. Du hast sie automatisch abgelehnt. Diese Geizhälse haben dir aber nur, na sagen wir mal“, Upper überlegte einen Moment „oh ja, das ist ein gutes Bild – sie haben dir einen Spiegel vorgehalten. Du hast in einen Spiegel geblickt und dort deinen Schatten des Knausers erblickt. Der hat dich so sehr erschreckt, dass du ihn erst mal für dich als Trugbild verleugnet hast. Mit der Zeit, und mit Hilfe deiner Erinnerung an Zuhause, hast du dieses Trugbild aber als deinen Schatten erkennen können und ihn akzeptiert. Von diesem Zeitpunkt an sahst du andere Knauser als das an was sie waren – nämlich einfach nur Geizhälse. Sie störten dich nicht mehr, weil sie keine Resonanz mehr bei dir fanden. Indem du deinen Schatten akzeptiertest, hattest du diesen Anteil in dir erlöst, im Sinne von aufgelöst. Verstehst du? Du warst immer die hilfsbereite Gönnerin – auch mit dem Schattenaspekt des Knausers in dir. Du hast die Sache mit deinem Schatten nur leider mit deiner Ankunft hier
wieder vergessen.“
„Ach so! Ich glaube, jetzt habe ich es verstanden.“
„Okay, kann´s weitergehen?“
„Ja, Upper.“
„Na endlich!“ seufzte Tomasin. Er begann schon vor Ungeduld seine Augen zu verdrehen. „Der Knauser also, er will nichts geben – meistens zumindest. Das, was er besitzt, ist so etwas wie ein Abgott für ihn. Er wähnt sich mit seinem Besitz leider in einer trügerischen Sicherheit. Denn nichts ist von Dauer. Der Besitz kann schnell, durch unvorhersehbare und unkontrollierbare Umstände, fort sein. Geizig zu sein macht einsam, denn die Sorge und die Aufmerksamkeit um den Besitz verhindert wahre Verbindung mit dem Umfeld. Knauser werden praktisch von ihrem Besitz besessen, ohne es selbst zu merken.“
„Ja, genau. Das waren genau die Menschen, die ich nicht mochte. Sie waren auch so kalt und so verknöchert in ihrem Herzen. Brrr!“ Linda schüttelte sich bei der Erinnerung an diese Menschen.
„Dein zweiter Schattenaspekt“, fuhr Tomasin fort „war der der Verbergerin. Du solltest dich fürchten und glauben, dass du deine Aufgabe alleine erfüllen müsstest - ganz ohne Hilfe von anderen. Wenn du diesen Aspekt gehabt hättest, hättest du dich vermutlich verborgen, weil dir die Erfüllung deiner Aufgabe als schier unmöglich erschienen wäre. Du hättest dich versteckt, weil du Angst vor deiner Berufung gehabt hättest, vor deinen Begabungen, deiner Macht und letztendlich vor dir selbst.“
„Wieso hast du ihn mir gegeben und mir dann gesagt, ich solle ihn zurücklassen?“
„Ähem, das sollte ein kleines Experiment sein, entschuldige bitte Linda.“ Verlegen versuchte Tomasin eine Ausrede zu finden. „Ich dachte mir, wenn du erst einmal ohne diesen Aspekt reisen würdest, also nur mit dem Archetypaspekt des Kraftstrotzenden – wer weiß, was dann passieren würde?“
„Ich habe die Verbergerin in mir jedenfalls nicht vermisst! Der Kraftstrotzende war prima“, triumphierte Linda.
„Aber ich – zum Donnerwetter nochmal!“, schimpfte Hannah. „Ich hatte eine Scheißangst!“
„Vor wem, vor mir etwa? Ich war doch nur deine Tochter!“
„Nicht vor dir – vor deinen Fähigkeiten! Du warst von Anfang an anders als deine Geschwister: gewitzter, aufgeweckter, schlauer, wissender. Ich hätte mir was von der Verbergerin in dir gewünscht.