Der Stoff, aus dem die Helden sind. Jürgen Kalwa
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Aber zurück zu dem triumphalen Abend, bei dem das Fernsehen dem Spiel gleich auf zweierlei Weise einen besonderen Stellenwert verleiht. Es gehört zu dessen eigenwilligen Begleitumständen, wie der amerikanische Fernsehsender ABC mit dem Ereignis umgeht, dessen Kommentator Al Michaels das Spiel nach der Schlusssirene spontan zu einem Wunder hochstilisiert. Zum Miracle on Ice. Die Programmverantwortlichen haben vor dem Spiel den internationalen Eishockeyverband gedrängt, das Match in die zuschauerträchtigere Prime Time zu verschieben, aber sind auf taube Ohren gestoßen. So entscheiden sie sich kurzfristig für den Verzicht auf eine Live-Übertragung und verlegen die Ausstrahlung einfach nach hinten.
In anderen Ländern würde es als Affront eingestuft, einer ganzen Nation eine derartige künstliche Spannung aufzubürden. Doch im Kampf um Einschaltquoten scheint jedes Mittel recht. Chef-Ansager Jim McKay tut vor Beginn der Übertragung so, als sei es das Normalste von der Welt, dass der Sender den Menschen im Austragungsland der Olympischen Spiele eine solche Partie vorenthalten hat.
Es ist die Geburtsstunde dessen, was das amerikanische Sportfernsehen Jahre später im Rahmen der Berichterstattung von Olympischen Spielen immer wieder praktiziert und wird mit dem Begriff plausibly live belegt.48 „Die Ereignisse, die Sie heute Abend sehen werden, sind bereits vorbei. Möglicherweise kennen bereits mehrere Millionen das Resultat. Aber wir wollen es nicht verraten.“
Das Resultat ist das eine. Etwas ganz anderes ist die Art und Weise, wie es zustande kommt, als eine ziemlich unerfahrene Truppe mit jungen Collegespielern und lupenreinen Amateuren eine der besten Eishockeymannschaften aller Zeiten mit ihren eingespielten Berufsoffizieren bezwingt. Der Endstand: 4:3, ein knapper Sieg. Aber niemand wird nachher bestreiten, dass die Amerikaner verdient gewonnen haben. Nicht mal die Verlierer, die die Schmach, ihren Zorn und ihre Verwirrung herunterschlucken, als sie aus der Halle hinaus in die Winternacht treten.
Das Prickeln von damals ist verflogen. Dafür ist die Wertschätzung für die Akteure mit jedem Jahr ein Stückchen mehr gewachsen. Dieses eine Spiel gilt noch heute als Miracle on Ice, eine Bezeichnung, die auf den denkwürdigen Satz zurückgeht, den der Fernsehkommentator Al Michaels kurz vor der Schlusssirene in den Äther brüllt:
„Do you believe in miracles? Yes.“
„Glaubt ihr an Wunder? Ja.“
Michaels erinnert sich Jahre später in einem Video-Interview an diesen Moment, in dem er das Außerordentliche am Sieg der amerikanischen Außenseiter in einen Gedanken gießt, der das Spiel auf ewig im öffentlichen Bewusstsein verankert: „Die Zeile ‚Glaubst du an Wunder? Ja‘, ist einfach Teil meines Kommentars während der Übertragung. Ich habe deshalb Glück gehabt, dass die Leute bis heute darüber reden. Als der Film mit dem Titel Miracle gedreht wurde, haben mir die Leute gesagt, die ihn produziert haben: ‚Hey, wenn du nicht das sagst, was du damals gesagt hast, dann haben wir wahrscheinlich gar keinen Film.‘“
Diese auf den wenigen spontanen Worten eines Fernsehreporters basierende Wahrnehmung entspricht dem Platz, den das Ereignis seitdem im kollektiven Gedächtnis der Vereinigten Staaten einnimmt: Dies war nicht irgendein Eishockeyspiel. Es war das Äquivalent zu einer Schlacht in einem Krieg in einer Zeit des ständigen Säbelrasselns der beiden Atommächte. Wenn auch mit stumpfen Waffen auf einem ideologisch geprägtem Fundament. Eine Schlacht mit Eishockeyschlägern und Hartgummischeiben.
Von den beiden Gegnern hatte der eine – die Sowjetunion – kurz zuvor mit dem Einmarsch in Afghanistan gezeigt, wie man gegebenenfalls mit der Armee in einem Nachbarland einmarschiert. Während der andere – die Vereinigten Staaten – moralisch angeschlagen von einer anhaltenden Wirtschaftskrise, dem langen Echo auf das Fiasko des Vietnam-Kriegs und von der langen Geiselnahme amerikanischer Diplomaten im Iran dringend ein Anti-Depressivum mit durchschlagender Wirkung braucht.
Das Spiel wird so zum Symbol eines Wettstreits voller nationalistischer Gefühle, das die Menschen in Amerika dazu inspiriert, die jüngste Eishockey-Auswahl, die das Land je zu Olympischen Spielen geschickt hat, mit ungeheurer Ekstase und Schwärmerei aufzuladen. Ein Phänomen, das die Lake Placid News Jahre später so beschreibt: „Wir können gar nicht deutlich genug unterstreichen, wie dieses Miracle on Ice die Stimmung in Amerika veränderte. Das Wunder gab uns Hoffnung für die Zukunft. Es sorgte dafür, dass wir uns wieder besser fühlen – nach einem politisch und wirtschaftlich tristen Jahrzehnt.“
Nach dem Turnier lädt Präsident Jimmy Carter die Mannschaft nach Washington ein. Bis dahin hat keiner von ihnen eine Vorstellung davon, welche Bedeutung dieser Sieg für ihre Landsleute hat. Aber als sie im Bus auf der Fahrt vom Flughafen ins Weiße Haus erleben, wie die Menschen an den Straßen Spalier stehen und ihre Namen brüllen, sickert es allmählich ein.
„Ja“, sagt Buzz, damals einer der Leistungsträger und mit 25 der älteste im Kader. „Man hat uns immer wieder gesagt, was für ein positives Gefühl das für die Menschen war.“ Er macht eine Pause und fügt hinzu: „Aber wir haben das ebenfalls sehr genossen.“
Verständlich: Es ist ja zu allererst auch ihr ganz persönlicher Triumph. Zum Beispiel für David Christian, dessen Vater Bill und dessen Onkel Roger bei den Spielen 1960 in Squaw Valley ebenso überraschend die Goldmedaille gewonnen hatten und der 1980 seinen Teil zu einer erstaunlichen Eishockey-Dynastie beiträgt: insgesamt acht Assists verteilt über das gesamte Turnier von Lake Placid.
Ihr Trainer hatte den Erfolg von 1960 übrigens nur knapp verpasst. Er war als Stürmer Teil des Kaders. Bis er einen Tag vor dem Turnier als letzter aus dem Team gestrichen wurde. Erst bei Olympia in Innsbruck 1964 und in Grenoble 1968 kommt er zum Einsatz. In einem Dokumentarfilm des Fernsehsenders ESPN erinnert er sich später: „Als wir gewonnen hatten, schaute mein Vater rüber und sagte: ‚Sieht so aus, als hätte Coach Riley den richtigen Mann ausgewählt, oder?‘ Wahre Geschichte. Das hat mich genau zwischen den Augen getroffen.“ Die Medaille, die ihm so entgeht, sichert er sich 20 Jahre später auf eine andere Weise: in dem er die nächste Generation junger Spieler dazu bringt, ihr Bestes zu geben. Er ist genau der richtige Mann für diesen Job, den ihm der Eishockeyverband anvertraut.
Allerdings für den Rest des Landes bedeutet der Erfolg dann doch noch etwas mehr: Es ist „der großartigste Augenblick in der Geschichte des Sports des zwanzigsten Jahrhunderts“ – wie die amerikanische Zeitschrift Sports Illustrated ihn später nennt.
*
Ortstermin in St. Paul, der Hauptstadt von Minnesota, im Herbst 2019. William Conrad Schneider, Spitzname Buzz, ist zum Interview gekommen und hat nicht nur ein paar alte Trikots und die Goldmedaille von Lake Placid mitgebracht, sondern auch seinen Sohn Billy. Der Senior, inzwischen 65 und im Rentenalter, stammt aus der Gegend und wurde nach dem Ende seiner Laufbahn Immobilienmakler. Billy, mittlerweile Ende 30, arbeitet für eine Biervertriebsfirma und ist ebenfalls in Minnesota geblieben, dem eishockeyverrücktesten Bundesstaat in den Vereinigten Staaten.
Dass sie beide erschienen sind, hat einen Grund: Sie verbindet nämlich mehr als nur eine klassische Ereigniskette aus der Biologie. Der Junior wollte einst sportlich in die Fußstapfen seines Vaters treten und hatte „den Traum, für die amerikanische Olympia-Auswahl zu spielen und eine Goldmedaille zu gewinnen“.
Daraus wurde nichts, weil er irgendwann verletzungsbedingt die Karriere beenden musste. Dafür