Der Stoff, aus dem die Helden sind. Jürgen Kalwa
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Man nehme den Kapitän und Spielmacher der deutschen Fußballnationalmannschaft von 1954: Fritz Walter. In der Pfalz hat man nach ihm immerhin vor ein paar Jahren ein Stadion benannt. Aber ein einziger kitschiger Kinofilm genügte 50 Jahre nach dem WM-Finale, um „Das Wunder von Bern“ umzudeuten: zu einem Triumph des zweifachen Torschützen und Stürmers Helmut Rahn und zu einer Eloge auf die Fußballwelt des Ruhrgebiets. Es war eine Umfälschung. Fünf Weltmeister – fünf der elf, die im Endspiel auf dem Rasen standen – kamen so wie Fritz Walter aus einem einzigen Club, dem 1. FC Kaiserslautern. Aus dem Ruhrgebiet kam nur einer.
Bei der WM 2006 kurbelte derselbe Regisseur weiter am deutschen Fußball-Mythos. Diesmal in der Verklärung eines Turniers im eigenen Land zum sogenannten Sommermärchen. Sönke Wortmann betonte rund um das Projekt, dass er Pathos „wunderbar“ finde. Und Kitsch „nicht so schlimm“.
Manipulationen im Umgang mit der historischen Wahrheit sind auch in Amerika an der Tagesordnung. Schon die Entscheidung für den Bau der Hall of Fame in Cooperstown basierte auf einer Fama. Auf der Behauptung, dass exakt hier in diesem kleinen Ort im Jahr 1839 das Baseball-Spiel erfunden wurde. Von einem Mann namens Abner Doubleday, der später als General im Sezessionskrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten kämpfte. So wurde die feierliche Eröffnung der Baseball-Ruhmeshalle bewusst in den Sommer 1939 gelegt. Ein solches Jubiläum wollte gefeiert werden.
Die Mär vom General und seiner Erfindung ist längst widerlegt worden. Aber in den dreißiger-Jahren wurde es von niemanden hinterfragt. Schon gar nicht von jener wohlhabenden Industriellenfamilie namens Clark, die Cooperstown wie eine Aristokratendynastie beherrscht. Die Erben des Singer-Nähmaschinen-Imperiums, die in der Gegend am Lake Otsego, dem Schauplatz der Lederstrumpf-Geschichten von James Fenimore Cooper, ein großes Hotel und sehr viel Land besitzen, hatten sich in die Idee verliebt, mitten in der großen Wirtschaftskrise der dreißiger-Jahre den Tourismus anzukurbeln. Sie schlugen den Bau einer Hall of Fame vor und finanzierten das Projekt. Die Liga gab ihren Segen.
Und so standen sie im Sommer 1939 auf den Stufen vor dem neuen Gebäude: Ty Cobb, Babe Ruth, Honus Wagner und andere Ex-Profis, die in der ersten Blütezeit des Spiels, als das Radio begann, die Begegnungen live zu übertragen, zu überlebensgroßen Figuren geworden waren.
Der Ansager kündigte Wagner als Flying Dutchman und als „the greatest shortstop in the game‘s history“ an. Und der nutzte die Gelegenheit, sich noch einmal in Szene zu setzen: „Ladies and Gentlemen. I was born in 1874. This organization was started in 1876. When I was a kid I said, I hope some day I will play up there in this league. And by chance I did.“
Die Sache mit General Doubleday ist nicht die einzige Ungereimtheit in der Geschichte der Institution. So wurde bis heute einer der besten Baseball-Profis aller Zeiten, Pete Rose von den Cincinnati Reds, nicht in die Ruhmeshalle aufgenommen. Er hatte in den achtziger-Jahren auf den Ausgang von Baseballspielen gewettet, war erwischt worden, hatte gelogen und war deswegen von niemand anderem als jenem Bartlett Giamatti, dem damaligen Commissioner, einem Agnostiker und Moralisten, auf Lebzeiten gesperrt worden. Die Tür zur Hall of Fame ging damit ebenfalls zu.
Was mehr als bizarr wirkt. Unter den über 300 Figuren in der Ruhmeshalle befinden sich jede Menge fragwürdige Charaktere: ein verurteilter Drogenhändler, ein ehemaliger Kokainsüchtiger, der knapp einer lebenslänglichen Baseball-Sperre entgehen konnte, zahllose Alkoholiker, ein Pitcher, der in einem Buch gebeichtet hat, dass er sich seinen Platz in der Hall of Fame auf betrügerische Weise erschlichen hat. Dazu: wenigstens drei ehemalige Ku-Klux-Klan-Mitglieder. Darunter der berühmt-berüchtigte Ty Cobb, der nie den Verdacht ausräumen konnte, dass er einen Mord begangen hatte.
Der Journalist Zev Chafets hat in seinem Buch Cooperstown Confidential auf die doppelte Moral hingewiesen, die im Verwaltungsrat der Hall of Fame herrscht, wo die Kriterien für die Aufnahme von Sportlern festgelegt werden. Es gibt eine besondere Moralklausel, die auf die Singer-Erben zurückgeht. Aber sie wird nicht auf jeden angewendet. Zurzeit etwa gelten Spieler, die sich mit Anabolika gedopt haben, als persona non grata. Doch da es sich dabei um die besten Profis einer ganzen Generation handelt, steht die Hall of Fame vor einem Dilemma. Chafets im Interview: „Die Hall of Fame versucht sicher ehrlich das zu machen, was sie für richtig hält. Aber da Baseball und die Hall of Fame sich so gerne als Musterbeispiel für Menschen mit untadeligem Charakter präsentieren, kann man sie leichter der Heuchelei bezichtigen als etwa das Boxen. Dort gibt man nicht vor, irgendetwas anderes zu tun, als solche Typen vorzuführen, denen man nachts nicht in einer dunklen Gasse begegnen möchte.“
Dass die Kritik an solch einer Heuchelei selten laut wird, liegt nicht zuletzt an der unwiderstehlichen Magie von Biographien wie der des Einwandererkindes Joe DiMaggio, der in den dreißiger-Jahren aus San Francisco zu den New York Yankees kam, dem berühmtesten amerikanischen Sportclub. Dort wurde er zu einem der besten zehn Profis in der Geschichte des Spiels. Seine märchenhafte Aufsteiger- und Erfolgsgeschichte machte ihn zu einem Idol. Als DiMaggio Anfang der fünfziger-Jahre seinen Abschied vom aktiven Sport nahm, gelang ihm mühelos der Übergang zu Teil zwei seines Aufstiegs ins öffentliche Bewusstsein. Als er wenig später in der Fernsehsendung What‘s My Line? auftrat, dem Vorbild für Robert Lembkes Was bin ich?, brauchte das Rateteam trotz der Masken vor den Augen nicht lange, um seine Identität zu ermitteln. Er war schließlich erst kurz zuvor in die Baseball Hall of Fame aufgenommen worden. Er war ein Superstar.
Wenig später wurde der Rest der Welt ebenfalls auf ihn aufmerksam. Der Anlass? Seine Heirat mit der Schauspielerin Marilyn Monroe. Als sie die berühmte Szene mit dem von der vorbeifahrenden U-Bahn aufgewirbelten Rock für den Film Das verflixte 7. Jahr drehte, stand er auf der gegenüberliegenden Seite der Lexington Avenue von Manhattan und schaute zu.
Die Ehe mit Marilyn Monroe ging nach nur neun Monaten auseinander. Joe DiMaggio versilberte seinen Ruhm weiter wie gewohnt – mit Werbespots für einen Kaffeemaschinen-Hersteller und mit Autogrammstunden, für die er viel Geld verlangte. Doch dann – man schrieb das Jahr 1967 – passierte etwas Unerwartetes. Da wurde aus dem Über-Sportler eine Legende der Popkultur. Und alles nur wegen ganzer vier Zeilen in dem anspielungsreichen Lied Mrs. Robinson. Ein Song, der für den Erfolgsfilm Die Reifeprüfung komponiert worden war und der in einer späten Strophe die unschuldige und symbolisch gemeinte Frage stellte: „Where have you gone, Joe DiMaggio?“ – „Wohin bist du gegangen, Joe DiMaggio? Unsere Nation richtet unsere einsamen Augen auf dich. Was meinen Sie, was das heißt, Mrs. Robinson? Joltin‘ Joe47 ist weg und gegangen.“
Da klang Nostalgie nach dem Zuschnitt der sechziger-Jahre durch. Geprägt von Verlustgefühlen. Amerikas Soldaten starben in Vietnam. Studenten revoltierten an den Universitäten. Der Baseball-Profi schien die ideale Figur, um diese Gefühle – konfliktfrei, generationenübergreifend – widerzuspiegeln.
Einer allerdings konnte mit dieser Allegorie überhaupt nichts anfangen: Joe DiMaggio. Als er Song-Texter und Komponist Paul Simon irgendwann in einem Restaurant in New York zufällig begegnete, beschwerte er sich in einer direkten Konfrontation: „Ich bin nirgendwo hingegangen“. Der Sportler selbst hatte den Symbolwert seiner Existenz nie verstanden.
Als DiMaggio 1999 starb, ging er allerdings wirklich. Wohin? An den Ort, an den Bart Giamatti gegangen war und die vielen berühmten Baseball-Profis vor ihm. Brad Horn, der Abteilungsleiter für Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit der Hall of Fame erklärte die Metamorphose bei einem Besuch so: „Er wurde ein Teil von dem, was Cooperstown symbolisiert, dieser mythische, gefeierte ikonenhafte Status. Und ich glaube, das ist es auch, wonach sich die Menschen sehnen, wenn sie die Schnittstelle von Gesellschaft und Sport feiern. Das ist der