Der Stoff, aus dem die Helden sind. Jürgen Kalwa
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Doch diese scheinbar geradlinige Geschichte produzierte wenig später eine tragische Wendung. Nachdem Thorpe 1912 bei den Olympischen Spielen in Stockholm zwei Goldmedaillen gewann – bei den zwei Mehrkampfwettbewerben der Leichtathletik, die es damals gab: den Fünfkampf und den Zehnkampf – und nach der Rückkehr in New York mit einer Konfettiparade begrüßt wurde, wurde er das Opfer des feudalen Zeitgeists im organisierten Sport. Der Mann, den der schwedische König Gustav V. bei der Siegerehrung mit den Worten beglückwünscht hatte, „Sir, Sie sind der großartigste Athlet der Welt“, wurde die Zielscheibe von Rassismus, Klassenarroganz und purem Neid. Beide Medaillen wurden ihm aberkannt, weil Thorpe 1909 und 1910 in einer unteren Liga in North Carolina professionell Baseball gespielt und dafür 60 Dollar pro Monat kassiert hatte. Es handelte sich um einen Verstoß gegen die damaligen Amateurregeln. Seine Verteidigung – „Ich war ein einfacher Indianerjunge und hatte keine Ahnung von diesen Dingen“ – stieß auf taube Ohren.
Erst 1982, als sein Landsmann Avery Brundage endlich in Pension war, den er bei beiden Wettbewerben in Stockholm deutlich geschlagen hatte und der sich während seiner Amtszeit als amerikanischer NOK-Chef und als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees ausdrücklich gegen eine Rücknahme der Entscheidung eingesetzt hatte, wurde Thorpe erneut zum Olympiasieger erklärt.
Die Geschichte seiner sterblichen Überreste ist übrigens nicht weniger spektakulär, allerdings sehr viel abenteuerlicher. Denn Jim Thorpe kann nichts dafür, dass seine Gebeine hier an der Route 903 Richtung Albrightsville und in dieser kleinen Stadt mit der nichtssagenden Postleitzahl 18229 gelandet sind, in die er in seinem ganzen Leben nie auch nur einen Fuß gesetzt hatte.
Und er kann schon gar nichts dafür, wie diese Stadt inzwischen ganz offiziell heißt: Jim Thorpe.
Richtig. Jim Thorpe. Genauso wie er.
Denn er war bereits tot, als die Lokalpolitiker 1954 auf der Suche nach einer neuen Identität auf diesen Handel eingingen und ihr einstmals blühendes Städtchen im Kohlerevier von Pennsylvania, das nach Schließung der Tagwerke in eine schwere wirtschaftliche Depression verfallen war, umtauften. Das Geschäft kam mit Thorpes Witwe zustande. Mit Patricia, der Ehefrau Nummer drei, die für ein kleines Handgeld den beiden Orten Mauch Chunk und East Mauch Chunk die Gebeine ihres Mannes überließ und daran noch eine Bedingung knüpfte: Sie sollten ihm im Gegenzug ein ordentliches Mausoleum errichten. Und sie sollten den Namen der Kommune ändern.
Thorpes Leichnam war ursprünglich per Eisenbahn von Kalifornien nach Oklahoma gebracht worden, wo er nach einer Trauerfeier nach katholischem Ritus auf dem Fairview-Friedhof von Shawnee beigesetzt wurde. Doch wenig später ließ Patricia ohne Einwilligung der anderen Familienangehörigen die sterblichen Überreste exhumieren und nach Pennsylvania überführen.
Seine letzte Ruhe fand Jim Thorpe – der Sportler – deshalb in Jim Thorpe – der Stadt, die seinen Namen trägt – nicht sogleich. Denn vor ein paar Jahren begannen seine Söhne eine Kampagne, um die Gebeine nach Oklahoma zurückzuholen. Dorthin, wo man noch heute über die böse Stiefmutter schimpft.
Die Auseinandersetzung mit der Stadt in Pennsylvania lief selbst noch 2012, als man das hundertjährige Jubiläum der Olympiasiege von Stockholm hätte feiern können. Sie wurde erst im Herbst 2015 in letzter Instanz beendet, als der Oberste Gerichtshof in Washington ablehnte, sich mit der Sache zu beschäftigen, und auf diese Weise die Entscheidung der Berufungsinstanz zu Gunsten der Stadt Jim Thorpe Rechtskraft erlangte.
Die Enttäuschung in Oklahoma war enorm. Nicht nur unter Familienmitgliedern, sondern auch unter einflussreichen Menschen, die sich von der Rückkehr der Knochensammlung ebenfalls eine touristische Aufwertung ihrer Gegend erhofft hatten. Die Kläger hatten sich auf ein Gesetz berufen, das seit 1990 die Gebeine von Indianern und etwaige Grabbeigaben unter besonderen Schutz stellt und verlangt, dass sie den unmittelbaren Verwandten und Stammesorganisationen übergeben werden. Finanziell unterstützt worden war die Initiative vom Stamm der Sac and Fox. Der betreibt ein Casino und hat das Geld, solche teuren Rechtshändel zu finanzieren.
Justin Lenhart, 2012 Direktor des dortigen Jim Thorpe Museums, heute als Kurator in der Oklahoma Sports Hall of Fame in Oklahoma City beschäftigt, schimpfte damals: Patricia Thorpe sei nur aufs Geld aus gewesen. Sie habe alle Memorabilien verkauft, die ihr Mann im Laufe seiner Karriere angehäuft hatte. Noch schlimmer: Sie sei unvermittelt während der indianischen Begräbnis-Zeremonie zusammen mit der Polizei aufgetaucht und hätte die Leiche einfach mitgenommen.
Eine solche Räuberpistole passt irgendwie zu einem Lebenslauf, der von hohen Hochs und tiefen Tiefs geprägt war: Zu dem Nackenschlag nach der Heimkehr aus Schweden (Justin Lenhart: „Thorpe weinte oft ganz ungeniert. Und er sagte: Ich verstehe das nicht, warum sie mir meine Medaillen abgenommen haben. Ich habe bei Olympia kein Geld bekommen. Ich habe Geld fürs Baseballspielen erhalten.“), zu seinen triumphalen Auftritten als Footballprofi in den frühen Tagen der National Football League, zu den wirtschaftlich eher mageren Verhältnissen, in denen er leben musste. Und zu der Behandlung als Darsteller von Indianern in billigen Hollywood-Western.
Geld verdiente er anschließend trotzdem – unter anderem als Football-Profi. Und später noch als Komparse in billigen Hollywood-Western, wo er allerdings nur den tumben Indianer mimen durfte. Eine richtige Schauspielerkarriere war ihm nicht vergönnt. Überdies litt er irgendwann an Alkoholproblemen, erlebte Schiffbruch mit zwei Ehen und galt bei seinem Tod nur noch als tragischer Held. Ein Image, gegen das die dritte Ehefrau anzukämpfen versuchte, als sie mit den Stadtvätern in Pennsylvania den Deal einfädelte, ihre Kommune Jim Thorpe zu nennen.
Die Stadt mit ihren 5000 Einwohnern ist heute aus dem Gröbsten heraus. Man hat die viktorianische Architektur in der Hauptstraße, genannt Broadway, erhalten und herausgeputzt und wurde deshalb 2012 in einer amerikaweiten Umfrage zu einem der fünf hübschesten Orte des ganzen Landes gewählt. Es gibt Institutionen wie die Jim Thorpe National Bank und das Jim Thorpe Film Festival. Und jedes dritte Wochenende im Mai eine Feier aus Anlass des Geburtstags des Namensgebers.
Aber die meisten Besucher, die kommen, so gibt Al Zagofsky in einem Gespräch zu, der jahrelange Herausgeber vom Carbon County Magazine und deshalb in der Region bestens vernetzt, „wissen überhaupt nicht, wer Jim Thorpe war, und haben auch gar kein Interesse, die Gedenkstätte zu besuchen“.
Sicher, ein paar Traditionalisten wie jene, die sich um die Gedenkfeiern zu seinem Geburtstag kümmern, wären enttäuscht gewesen, wenn der Namenspatron wieder verschwunden wäre. Auch deshalb, weil der Erwerb der sterblichen Überreste juristisch betrachtet sehr wohl mit rechten Dingen zugegangen war. Was William Schwab als Anwalt der Stadt jedem gerne erklärte, der ihn während der Auseinandersetzung in seinem Büro besuchte. Zumal der Sportler Thorpe kein Testament besaß und deshalb persönlich rein gar nichts verfügt hatte.
Schwab, typisch Jurist, sah in der ganzen Angelegenheit interessanterweise keine Spur von Ironie. Dass der großartigste Sportler Amerikas, der Zeit seines Lebens oft genug herumgeschubst worden war, auch nach seinem Ableben nicht viel mehr als ein Spielball unterschiedlicher Interessen geblieben war, schien eine Laune der Geschichte.
Mehr nicht.
„Es gibt ungefähr elf Nachkommen, die gegen eine Umbettung sind. Sie haben ihren eigenen Anwalt. Wenn die elf gegen die anderen zwei antreten, werden die vielleicht nachgeben. Jim Thorpe war Zeit seines Lebens