Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen. Christoph Keller
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Bei der Verhältnismäßigkeit i. e. S. muss festgestellt werden, ob die Maßnahme auch angemessen gewesen ist. Hierbei ist die Zweck-Mittel-Relation zu erörtern. Der Eingriff in die Grundrechte des Adressaten darf nicht außer Verhältnis zu dem zu erreichenden Zweck stehen. Bei präventiven Maßnahmen sind die Grundrechte des Adressaten gegen die geschützten Rechtsgüter gefährdeter Dritter abzuwägen.
Einen gravierenden Fehler stellt es dar, wenn auch bei repressiven Maßnahmen die Grundrechte des Adressaten gegen die Grundrechte des „Opfers“ einer Straftat abgewogen werden. Denn der Zweck solcher Maßnahmen ist nicht – wie bei Gefahrenabwehrmaßnahmen – der Rechtsgüterschutz, sondern die Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Strafverfolgung.60 Daher sind die Grundrechte des Adressaten gegen das staatliche Strafverfolgungsinteresse abzuwägen.61
II. Prüfung einer gefahrenabwehrenden Zwangsmaßnahme im gestreckten Verfahren 62
Prüfung der Grundmaßnahme ist erfolgt
I. Ermächtigungsgrundlage
Nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes bedarf es bei einem Grundrechtseingriff einer Ermächtigungsgrundlage, welche auf ein verfassungsmäßiges Gesetz zurückzuführen ist.
1. Grundrechtseingriff
2. Zielrichtung
3. Ermächtigungsgrundlage
II. Formelle Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme
1. Zuständigkeit
– Verweis auf vorgängige Prüfung der Grundmaßnahme
– § 56 VwVG NRW analog
2. Verfahren
– Anhörung entfällt (Ersatzvornahme/Unmittelbarer Zwang sind Realakte63)
– bei a. A. Anhörung entbehrlich, § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG64
– bei Anlass: § 56 Abs. 4 PolG NRW, § 55 Abs. 3 PolG NRW
III. Materielle Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme
1. Zulässigkeit des Zwangs (§ 50 Abs. 1 PolG NRW)
a) Vollstreckbare Grundverfügung
aa) Wirksamkeit
– ordnungsgemäße Bekanntgabe, § 43 VwVfG NRW
– keine Nichtigkeit nach § 44 VwVfG NRW
bb) Inhaltliche Vollstreckbarkeit
– Befehlender Verwaltungsakt (Handeln/Dulden/Unterlassen)
cc) Formelle Vollstreckbarkeit
– Bestandskraft oder
– sofortige Vollziehbarkeit gem. § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO
dd) Nichterfüllung der durch die Grundverfügung auferlegten Pflicht
b) Konnexitätsgrundsatz
2. Zulässigkeit des Zwangsmittels (§ 51 PolG NRW)
a) Ersatzvornahme (§ 52 PolG NRW)
b) Zwangsgeld (§ 53 PolG NRW)
c) Unmittelbarer Zwang (§§ 55, 58 PolG NRW)
3. Art und Weise der Zwangsanwendung
a) Ersatzvornahme, § 56 PolG NRW, unter Hinweis auf Kostenmitteilung
b) Zwangsgeld, § 56 PolG NRW, Androhung in bestimmter Höhe;
Festsetzung, § 53 Abs. 1 und 2 PolG NRW
c) Unmittelbarer Zwang, § 61 PolG NRW
4. Bei Anlass: Besondere Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen
a) Fesselung (§ 62 PolG NRW)
b) Schusswaffengebrauch (§§ 63–65 PolG NRW)
5. Ermessen
6. Übermaßverbot
a) Geeignetheit
b) Erforderlichkeit
c) Verhältnismäßigkeit
IV. Ergebnis
Allgemeine Erläuterungen zum polizeilichen Zwang
Polizeilicher Zwang bringt das Recht zur Wirkung. Die Zwangsanwendung sorgt dafür, dass das Recht gegenüber demjenigen durchgesetzt wird, der es nicht beachtet. Insoweit haben polizeiliche Zwangsmaßnahmen zwei Funktionen: zum einen Beugefunktion; angesichts von angedrohtem oder angewendetem Zwang gibt der Rechtsbrecher sein rechtswidriges Verhalten auf. Durch den Bruch des Widerstandes wird zum anderen ein rechtmäßiger Zustand hergestellt (Realisierungsfunktion).65 Eine Straffunktion (d. h.: Sühne für begangenes Unrecht) hat die Zwangsanwendung nicht (wenn sie auch von den Betroffenen häufig „als Strafe“ empfunden wird). Durch Zwang sollen ausschließlich rechtskonforme Zustände hergestellt werden. Deswegen sind Zwangsmaßnahmen sofort einzustellen, wenn dieses Ziel erreicht wird.66 Aus der Befugnis, einen Verwaltungsakt zu erlassen, folgt noch nicht das Recht, diesen auch zu vollstrecken. Vollstreckungshandlungen bedürfen, ebenso wie die zu vollstreckende Verfügung selbst (z. B. „Öffnen Sie die Tür!“ = Begleitverfügung nach § 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 PolG NRW), einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage (Vorbehalt des Gesetzes), die in den §§ 50 ff. PolG NRW zu finden ist. In Betracht kommen § 50 Abs. 1 PolG NRW oder § 50 Abs. 2 PolG NRW, also das gestreckte Verfahren oder der Sofortvollzug.
§ 50 Abs. 1 PolG NRW beschreibt die polizeiliche Grundkonstellation von „Befehl und Zwang“. Das bedeutet, dass die Polizei nach Erkenntnis einer Gefahrenlage einen Verwaltungsakt (§ 35 Satz 1 VwVfG) erlässt, durch den der Adressat aufgefordert wird, durch zwecktaugliches Verhalten (= Tun, Dulden oder Unterlassen) die Gefahr abzuwehren.
Rechtsgrundlage der Verfügung ist regelmäßig eine Standardbefugnis oder die Generalklausel.67