Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen. Christoph Keller
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Praxis- und klausurrelevant ist das Entfallen der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels. Zwar haben nach § 80 Abs. 1 VwGO Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung (Suspensiveffekt).76 Die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen entfällt in den Fällen des § 80 Abs. 2 VwGO.
§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO enthält für die typischen Maßnahmen des Polizeivollzugsdienstes eine maßgebliche Regelung: Bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten haben Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung. „Unaufschiebbar“ im Sinne der Vorschrift sind stets eilbedürftige Gefahrenabwehrmaßnahmen. Ein Abwarten würde den Erfolg der Maßnahme gefährden bzw. vereiteln.77 Dies ist beim Handeln der Vollzugspolizei regelmäßig der Fall. Weiterhin kann die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes durch die erlassende Behörde (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO: bei überwiegendem öffentlichen Interesse) angeordnet werden. Diese Alternative ist grundsätzlich dann einschlägig, wenn die Polizei einen schriftlichen Verwaltungsakt erlässt, der vollstreckt werden soll. Denn hier ist § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO („unaufschiebbare Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten) regelmäßig nicht einschlägig.78
Konnexitätsgrundsatz
Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass die Vollstreckung nur dann rechtmäßig sei, wenn auch die Grundverfügung selbst rechtmäßig ist (Grundsatz der Konnexität von Grundverfügung und Zwangsanwendung).79 Andererseits wird eine strikte Trennung zwischen Primärebene (Grundverfügung zur Gefahrenabwehr) und Sekundärebene (zwangsweise Durchsetzung) vorgenommen. Dieser Auffassung folgend ist eine Vollstreckungsmaßnahme auch dann rechtmäßig, wenn sich die sofort vollziehbare Grundverfügung (nachträglich) als rechtswidrig erweist.80 Hierfür spricht einerseits der Wortlaut von § 50 Abs. 1 PolG NRW. Der Gesetzgeber hat eine solche Voraussetzung in Abs. 1 im Gegensatz zu § 50 Abs. 2 PolG NRW nicht normiert. Dort wird als Vollstreckungsvoraussetzung (im Gegensatz zum Sofortvollzug nach § 50 Abs. 2 PolG NRW) nur gefordert, dass „ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat“, die Grundverfügung also sofort vollziehbar ist.
Wenn in einer Klausur die Rechtmäßigkeit der Grundmaßnahme vorab geprüft wurde und als rechtmäßig begutachtet wurde, ist auf die Frage der Konnexität bei der nachfolgenden Prüfung der Zwangsmaßnahme nicht einzugehen. Kommt man dagegen zu dem Ergebnis, dass die Grundmaßnahme rechtswidrig war, ist bei der Zwangsprüfung auf den Konnexitätsgrundsatz einzugehen. Gleichwohl kann (trotz rechtswidriger Grundmaßnahme) die Zwangsmaßnahme rechtmäßig sein. Wird in einer Klausur ausschließlich nach der Rechtmäßigkeit der Zwangsmaßnahme gefragt (ohne dass die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung vorab zu prüfen ist), ist auf die Frage der Konnexität einzugehen.
Zulässigkeit des Zwangsmittels (§ 51 PolG NRW)
Zwangsmittel sind in § 51 Abs. 1 PolG NRW genannt. Falls unmittelbarer Zwang angewendet wird, ist die genaue Form des unmittelbaren Zwanges darzulegen (gegen Sachen oder Personen; mit Hilfsmitteln, Waffen usw.). Probleme kann die Abgrenzung zwischen Ersatzvornahme und unmittelbarem Zwang gegen Sachen bereiten, etwa im Falle des Aufbrechens einer Tür. Die Abgrenzung bereitet Schwierigkeiten, weil sich die Ersatzvornahme bei Einwirkung auf eine Sache ihrem äußeren Erscheinungsbild nach häufig nicht vom unmittelbaren Zwang unterscheidet. Bei der Abgrenzung zwischen Ersatzvornahme und unmittelbarem Zwang gegen Sachen ist nach hier vertretener Ansicht danach abzustellen, ob der Gefahrenabwehrzweck durch die Zwangsmaßnahme unmittelbar erreicht wird (dann Ersatzvornahme) oder die Einwirkung auf eine Sache den Erfolg nur mittelbar (im Sinne einer Beugefunktion) herbeiführen soll (dann unmittelbarer Zwang gegen Sachen).81 Danach liegt im Falle des Eintretens einer Tür unmittelbarer Zwang gegen Sachen vor. Denn Gefahrenabwehrzweck ist hier die Abwehr einer Gefahr in der Wohnung. Dieser Zweck wird durch das Einschlagen der Tür nicht erreicht. Das Einschlagen der Tür ermöglicht erst die eigentlich intendierten Gefahrenabwehrmaßnahmen. Zudem kann von einer Ersatzvornahme nur dann ausgegangen werden, wenn das polizeiliche Tätigwerden mit der vom Pflichtigen vorzunehmenden Handlung identisch ist. Ist dies nicht der Fall, sind die Vorschriften über den unmittelbaren Zwang einschlägig.82 Im Falle des Eintretens einer Tür sind diese Handlungen nicht identisch, wenn dem Pflichtigen zuvor aufgegeben wurde, die Tür zu öffnen. Zwar ließe sich argumentieren, dass eine polizeiliche Gebotsverfügung, die einen Wohnungsinhaber zum Öffnen der Tür verpflichtet, die Art und Weise des Türöffnens regelmäßig nicht vorgibt. Gegen eine solche Sichtweise spricht jedoch, dass vom Pflichtigen grundsätzlich nicht das Aufbrechen seiner eigenen Tür verlangt werden darf, weil eine solche Verfügung unverhältnismäßig wäre. Die Polizei nimmt mithin keine dem Wohnungsinhaber obliegende Handlung vor. Insofern ist im Fall des Eintretens einer Wohnungstür von unmittelbarem Zwang auszugehen.83
Art und Weise der Zwangsanwendung
Jede Art von Zwang ist vor Anwendung grundsätzlich anzudrohen (§ 56 PolG NRW). Zwangsgeld und Ersatzvornahme sind möglichst schriftlich anzudrohen (§ 56 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW). Die Androhung beim unmittelbaren Zwang (§ 61 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW ist lex specialis zu § 56 PolG NRW) kann hingegen in jeder geeigneten Form erfolgen, z. B. auch mittels „Warnschuss“). Wann von der Androhung abgesehen werden kann, regeln § 56 Abs. 1 Satz 3 PolG NRW und § 61 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW. Danach ist eine Androhung entbehrlich, wenn „die Umstände sie nicht zulassen, insbesondere wenn die sofortige Anwendung des Zwangsmittels zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist“.
Bei Anlass: Besondere Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen
In Betracht kommen Fesselung nach § 62 PolG NRW (unmittelbarer Zwang durch Hilfsmittel körperlicher Gewalt) und Schusswaffengebrauch gem. §§ 63 ff. PolG NRW (unmittelbarer Zwang durch Waffeneinsatz).
Die Anwendung unmittelbaren Zwanges ist in ganz besonderem Maße vom verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt; der Schusswaffengebrauch ist dabei das letzte und äußerste Mittel des unmittelbaren Zwanges. Für den Schusswaffengebrauch gelten gegenüber sonstigen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs erhöhte Anforderungen (§§ 63 ff. PolG NRW).84
Ermessen und Übermaßverbot
Ermessen und Verhältnismäßigkeit sind nach den allgemeinen Vorschriften zu prüfen. Während die Prüfung des Ermessens in Klausuren regelmäßig sehr knapp erfolgen kann („Ermessensfehler sind nicht ersichtlich.“), muss die Verhältnismäßigkeit von polizeilichen Zwangsmaßnahmen meist ausführlicher geprüft werden, insbesondere bei der grundrechtsintensiven Anwendung