Fälle und Lösungen zum Eingriffsrecht in Nordrhein-Westfalen. Christoph Keller
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Durch polizeiliche Zwangsmaßnahmen wird – je nach Fallgestaltung und Zwangsmittel neben dem (subsidiären) Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) – häufig in unterschiedliche besondere Freiheitsrechte eingegriffen, zu nennen sind vor allem
– Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit, z. B. durch Festsetzung von Zwangsgeld)
– Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Körperliche Unversehrtheit, z. B. Anwendung unmittelbaren Zwangs)
– Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben, z. B. durch „Finalen Rettungsschuss)
– Art. 13 Abs. 1 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung, z. B. durch Eindringen in Wohnung)
– Art. 14 GG (Ersatzvornahme, z. B. durch Abschleppen eines Fahrzeugs, Schusswaffengebrauch gegen Sachen).
Erläuterungen zur Prüfung einer gefahrenabwehrenden Zwangsmaßnahme im gestreckten Verfahren
zu I. Ermächtigungsgrundlage
Nach Darlegung des Grundrechtseingriffs und der Zielrichtung (Verweis auf Grundmaßnahme) ist die Ermächtigungsgrundlage festzulegen. In Betracht kommt § 50 Abs. 1 PolG NRW. Ob im konkreten Fall das eingesetzte Zwangsmittel als Ersatzvornahme (§ 52 PolG NRW), Zwangsgeld (§ 53 PolG NRW) oder unmittelbarer Zwang (§§ 55, 57 ff. PolG NRW) zu bewerten ist, muss an dieser Stelle noch nicht entschieden werden.
zu II. Formelle Rechtmäßigkeit
Zuständigkeit
Es gilt der Grundsatz, dass diejenige Behörde für die Anwendung von Zwangsmitteln zuständig ist, die die zu vollstreckende Grundverfügung erlassen hat (Prinzip der Selbstvollstreckung). Für die Vollstreckung nach dem VwVG NRW, das für die Polizei nicht einschlägig ist, ist dieser Grundsatz in § 56 VwVG NRW geregelt: Ein Verwaltungsakt wird von der Behörde vollzogen, die ihn erlassen hat.
In der Klausur ist es vertretbar, zur Begründung der sachlichen Zuständigkeit „nach oben“ auf die vorgängige Prüfung der Grundverfügung zu verweisen.
Wenn die Polizei zum Erlass der Grundverfügung sachlich zuständig war, dann ist sie nach dem Grundsatz der Selbstvollstreckung auch für die zwangsweise Durchsetzung der Maßnahme zuständig. Es reicht also aus, wenn kurz und bündig festgestellt wird, dass die Polizei sachlich zuständig ist, da sie den Grundverwaltungsakt erlassen hat, der vollstreckt wird. Ob man dies mit § 50 Abs. 1 PolG NRW belegt, mit § 56 VwVG NRW analog69 oder durch die allgemeinen Zuständigkeitsregelungen zum Grundverwaltungsakt („Verweis auf oben“), spielt letztlich keine Rolle.70
Verfahren
Zu erörtern ist, ob eine Anhörung nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW zu erfolgen hat. Dies ist dann der Fall, wenn die Anwendung des Zwangsmittels einen Verwaltungsakt i. S. des § 35 Satz 1 VwVfG NRW darstellt. Nach mittlerweile überwiegender Auffassung haben Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges und die Ersatzvornahme regelmäßig (mangels Regelungswirkung) keine Verwaltungsaktsqualität. Es wird kein Gebot ausgesprochen, welches der Betroffene zu befolgen hätte. Vielmehr wird die Behörde ohne Weiteres zu einem selbstständigen Tätigwerden befugt. Unmittelbarer Zwang und Ersatzvornahme sind Realakte, so dass § 28 VwVfG NRW nicht anwendbar ist (§§ 9, 28 Abs. 1 VwVfG NRW) und nicht angehört werden muss. Demgegenüber wurde früher die Verwaltungsaktsqualität von Ersatzvornahme bzw. unmittelbarem Zwang bejaht, da der Zwangsmaßnahme stets eine unausgesprochene „konkludente Duldungsverfügung“ innewohne.71 Dann wäre grundsätzlich eine Anhörung des Betroffenen nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW erforderlich, kann aber wiederum wegen § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW unterbleiben. Auch diese Ansicht ist vertretbar (wenn auch überflüssig und reichlich absurd): „Denn dann müsste man z. B. behaupten, dass der Schlag des Polizisten mit dem Gummiknüppel den unausgesprochenen Befehl enthielte, diesen Schlag zu erdulden …“72.
Bei der Anwendung von Zwangsmitteln entfällt die Anhörung.
zu III. Materielle Rechtmäßigkeit
Zulässigkeit des Zwangs (§ 50 Abs. 1 PolG NRW)
Es können nur (befehlende) Verwaltungsakte (sog. Grundverfügungen) vollstreckt werden. Die entsprechende Polizeiverfügung muss einen vollstreckbaren Inhalt haben („ … auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen gerichtet“).
Im Rahmen des gestreckten Verfahrens sind alle Schritte des Verwaltungszwanges einzuhalten. Grundlegend hierfür ist das Vorliegen einer wirksamen und vollstreckbaren Grundverfügung. Dabei muss der VA auf ein Handeln, Dulden oder Unterlassen des Polizeipflichtigen gerichtet sein:73
Handlung: „Halt Polizei! Legen Sie das Messer auf den Boden.“
Duldung: „Wir werden Sie jetzt durchsuchen.“
Unterlassung: „Unterlassen Sie den Angriff.“
Voraussetzung ist, dass die Grundverfügung wirksam erlassen wurde. Unwirksame Verwaltungsakte sind nicht-existent und können deshalb auch nicht mit Zwang durchgesetzt werden. Ein Verwaltungsakt ist wirksam, wenn er bekannt gegeben wurde (§ 43 VwVfG NRW) und nicht an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet, also nicht nichtig i. S. des § 44 VwVfG NRW ist. Allein aus der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes darf nicht auf seine Nichtigkeit geschlossen werden. Nichtigkeit darf nicht mit Rechtswidrigkeit verwechselt werden. Rechtswidrige Grundverfügungen sind wirksam und können vollstreckt werden. Nur bei besonders schweren Fehlern i. S. des § 44 VwVfG NRW ist eine Verfügung nichtig und damit unwirksam.74
Hierauf ist in einer Klausur nur dann einzugehen, wenn diesbezüglich Probleme bestehen sollten, was kaum jemals der Fall sein wird.
Die Grundverfügung muss formell vollstreckbar sein. Entsprechend