Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz
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215Zu diesem „Einfallstor“ für das kirchliche Arbeitsrecht beeinflussende europarechtliche Regelungen siehe Fink-Jamann, Das Antidiskriminierungsrecht und seine Folgen, 121 ff.; ebenso Joussen, RdA 2003, 32 (34 f.).
216Vgl. Klein/Bustami, ZESAR 2019, 18.
217Triebel, Das europäische Religionsrecht, 140.
218So auch Schliemann, NZA 2003, 407 (410). Ausführlich zur Genese der Richtlinie siehe Hanau/Thüsing, Europarecht und kirchliches Arbeitsrecht, 28 ff.; insbesondere zu Art. 4 Abs. 2 RL 2000/78/EG Thüsing, öarr 63 (2016), 88 (106 ff.).
219Vgl. Joussen, RdA 2003, 32 (37).
220Vgl. Fink-Jamann, Das Antidiskriminierungsrecht und seine Folgen, 198.
221Vgl. Michl, in: Frankfurter Kommentar, Art. 17 AEUV Rn. 23.
Teil 2
Länderberichte
A. Deutschland – Ausgangspunkt und Vergleichsmaßstab
I. Die soziale Stellung der Kirchen und ihre Rolle als Arbeitgeber
In Deutschland besteht ein Dualismus zweier ungefähr gleich großer Kirchen, namentlich der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche. Die katholische Kirche gliedert sich in 27 Diözesen (Bistümer bzw. Erzbistümer), die evangelische Kirche ist der Zusammenschluss der 20 weithin selbständigen lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen Deutschlands (EKD). Zusammen vereinen katholische und evangelische Kirche fast zwei Drittel der deutschen Bevölkerung. Im Jahr 2015 zählte die katholische Kirche 23,6 Millionen, die evangelische Kirche 21,9 Millionen Mitglieder.222 Obwohl dieser hohe numerische Anteil eine große gesellschaftliche Bedeutung suggeriert, schwindet die Bindung der Bevölkerung an die Institution Kirche.223 Dies veranschaulicht der kontinuierliche Rückgang der Konfessionszugehörigkeiten im Laufe der letzten Jahrzehnte.224 Für diesen Trend können maßgeblich die soziologischen Phänomene der Pluralisierung, der Individualisierung und der Säkularisierung identifiziert werden.225
In scheinbarem Widerspruch zu dieser Entwicklung226 hat die Bedeutung der Kirchen als Arbeitgeber227 seit den späten 1960er Jahren in erheblichem Umfang zugenommen.228 Wegbereitend dafür war die enorme Zunahme kirchlich getragener Einrichtungen im sozialen bzw. karitativen Bereich durch die gesetzliche Etablierung des sozialrechtlichen Grundsatzes vom Vorrang privater Einrichtungen der Wohlfahrtpflege gegenüber öffentlichen Einrichtungen (sog. „Funktionssperre“).229 Auch infolgedessen sind gegenwärtig in der Bundesrepublik unzählige kirchliche Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Pflegeeinrichtungen und Beratungsstellen lebendiger Ausdruck der karitativen Grundfunktion der Kirchen. Das auf diese Weise gestiegene Engagement im sozialen Bereich ließ die Zahl der kirchlich Beschäftigten rapide steigen. Die geistlichen Orden als traditionell wichtigste Personalressource vermochten den entsprechenden Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr annähernd zu decken.230 Der weitaus größte Teil der Beschäftigten entstammt seitdem daher dem allgemeinen Arbeitsmarkt und ist auf Grundlage eines privatrechtlichen Arbeitsvertrages angestellt.231
Als Arbeitgeber fungieren katholische Diözesen, evangelische Landeskirchen, landeskirchliche und diözesane Verbände, Dekanate, Kirchenkreise und Pfarreien sowie die ihnen zugeordneten Einrichtungen.232 Eine genaue Zahl der kirchlichen Arbeitsverhältnisse kann angesichts dieser Vielzahl kirchlicher Arbeitgeber und Einrichtungen kaum ermittelt werden. In den einschlägigen Quellen der letzten Jahre ist zumeist von 1,3 bis 1,4 Millionen233, in jüngerer Zeit sogar von 1,5 Millionen234 Arbeitnehmern die Rede – es kann somit von einer weiterhin steigenden Tendenz ausgegangen werden. Davon sind gegenwärtig knapp 700.000235 Arbeitnehmer bei der katholischen Caritas und knapp 600.000236 Arbeitnehmer bei der evangelischen Diakonie beschäftigt. Dies verdeutlicht die eminente praktische Bedeutung des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland.
II. Staatskirchenrechtliche Grundlagen für das kirchliche Arbeitsrecht
1. Geschichtliche Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts
Die Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts ist die Geschichte einer Emanzipation der Institutionen Kirche und Staat, geprägt von Machtinteressen, inneren Widersprüchen und Rückschlägen auf dem Weg zu einer ausbalancierten Freiheit der Kirchen in einem modernen rechtsstaatlichen Gemeinwesen. Sie setzt im Wesentlichen mit der von Martin Luther angestoßenen protestantischen Reformation ein. Die enorme Bedeutung der durch diese Bewegung entfesselten Dynamik schlägt sich in der pointierten Bezeichnung des deutschen Staatskirchenrechts als „Reformationsfolgenrecht“237 nieder. Auch die konfessionelle Situation in Deutschland ist bis zum heutigen Tage entscheidend von der Reformation geprägt.238
Im Spätmittelalter hatten sich die Fürsten der Territorien im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation weitgehende Aufsichts- und Verwaltungsrechte über die Kirche und ihr Vermögen geschaffen, eine Verweltlichung der Kirche war die Folge.239 Auch dagegen richteten sich Luthers 95 Thesen aus dem Jahr 1517, die eine Rückbesinnung der Kirche zu ihrer geistlichen Berufung intendierten. Dabei erneuerte er die von Augustinus begründete Zwei-Reiche-Lehre und opponierte so gegen die Verschränkung von kirchlichen (civitas dei) und weltlichen (civitas terrana) Organisationsstrukturen. Zahlreiche weltliche Stände schlossen sich der Reformation an; viele verweigerten sich jedoch der aus ihrer Sicht häretischen neuen Lehre. Die auf diese Weise eingetretene Glaubensspaltung hatte eine schwere Verfassungsstörung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zur Folge.240 Denn die verlorene Glaubenseinheit des corpus christianum führte im reichsfürstlich föderalisierten Deutschland zu einer Verbindung der religiösen Auseinandersetzungen um die „wahre Lehre“ mit dem politischen Kampf um Macht.241 Das Verhältnis von Staat und Kirche war grundlegend infrage gestellt worden.242
In den zahlreichen auch kämpferisch geführten Auseinandersetzungen konnte sich keine der beiden Seiten nachhaltig durchsetzen. Erst durch den 1555 geschlossenen Augsburger Religionsfrieden243 konnte der verlorenen religiösen Einheit durch die Etablierung einer friedlichen Koexistenz zwischen den sich gegenseitig ausschließenden Konfessionen stabilisierend begegnet werden. Das Übereinkommen gilt als lex fundamentalis244 und prägte zusammen mit dem ein Jahrhundert später geschlossenen Westfälischen Frieden245 von 1648 den staatskirchenrechtlichen Aufbau des alten Reichs bis zu dessen Ende im Jahr 1806.246 Sämtliche Reichsstände erhielten das Recht, den Bekenntnisstand und die Ordnung des Kirchenwesens in ihrem Gebiet zu bestimmen;247 insofern kam es gewissermaßen zu einer „föderalistischen Lösung“ der Bekenntnisfrage.248 Zwar erfolgte auf diese Weise keine