Jugendgerichtsgesetz. Herbert Diemer

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Jugendgerichtsgesetz - Herbert Diemer Heidelberger Kommentar

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      Empirische Befunde zeigen, dass die sozialen Belastungsfaktoren bei den Arrestanten niedriges Bildungsniveau, Ausbildungsabbruch, Arbeitslosigkeit, Schulden, frühere Heim- bzw. Fürsorgeerziehung, Desintegrationslagen, Ausländerstatus und Suchtprobleme sind (Maelicke Ambulante Alternativen zum Jugendarrest und Jugendstrafvollzug, 1988; Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen (Hrsg.), Jugendarrest im Lande Bremen, 1989; Kobes/Pohlmann ZJJ 2003, 374). Nach der Untersuchung von Pfeiffer und Strobl DVJJ-J 1991, 44 haben diese Merkmale für die Verurteilung zu Jugendarrest eine wesentlich größere Bedeutung als die Schwere des Delikts oder die Zahl der Vorverurteilungen.

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      Bei den Delikten lagen im Jahre 2012 Körperverletzungsdelikte und Diebstahl mit zusammen 56 % wie schon im Jahre 2006 Körperverletzungsdelikte mit rund 32% an erster Stelle (6 650 von 20 756; § 223 StGB (Körperverletzung) = 2 495, § 224 StGB (gefährliche Körperverletzung) = 4 096), gefolgt von Diebstahl und Unterschlagung (5 943) sowie von Betrug und Untreue (1 459). Erst danach folgen Raub und Erpressung mit 1 233 Jugendarresten. 1989 sah die Reihenfolge noch anders aus: Verbrechen waren mit 3,0 %, schwere Vergehen (schwerer Diebstahl, gefährliche Körperverletzung und Trunkenheit im Straßenverkehr mit Unfall) mit 33,5 % und alle anderen, leichteren Vergehen mit 63,5 % beteiligt (Pfeiffer/Strobl DVJJ-J 1991, 42). 51 % der 1989 Verurteilten waren Heranwachsende, 33 % 16 bis 17-Jährige und 16 % 14 bis 15-Jährige. 41 % der Jugendlichen und Heranwachsenden wiesen keine Vorverurteilungen auf (2006 = 40 %; vorverurteilt waren 42,8 % ohne und 17,2 % mit Freiheitsentzug – darunter 14,6 % schon einmal mit Jugendarrest). Bei einer Gegenüberstellung fällt auf, dass junge Ausländer, die wegen eines einfachen Diebstahls oder einer Unterschlagung angeklagt wurden und keine frühere Verurteilung aufwiesen, ein mehr als dreimal so großes Risiko haben, zu Dauerarrest verurteilt zu werden (Pfeiffer/Strobl DVJJ-J 1991, 43, für aktuellere Zahlen vgl. Schott ZJJ 2004, 388 f.). Bei Raubtaten ist dagegen das Risiko der jungen Ausländer ohne frühere Verurteilung sowohl beim Dauerarrest als auch bei der Jugendstrafe ohne Bewährung niedriger als bei jungen Deutschen. Bei allen statistischen Angaben ist zu unterscheiden zwischen der Verhängung des Arrestes und seiner Vollstreckung. Gerade bei jungen Ausländern wird Dauerarrest durch die Berücksichtigung von Untersuchungshaft oder Unterbringung gem. § 52 häufig nicht mehr vollstreckt (Herrlinger DVJJ-J 1991, 156). Im Jahre 2008 sind 92,5 % aller stationären Sanktionen durch Urteil verhängter Jugendarrest, zu gleichen Teilen als Dauer- und Freizeitarrest, wohingegen der Kurzarrest bedeutungslos bleibt (Heinz Sanktionensystem, S. 95 f.).

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      Die Daten zur Deliktsschwere mit dem deutlichen Übergewicht leichter Straftaten zeigen, wie notwendig es ist, den Standort des Jugendarrestes im Rechtsfolgensystem neu zu bestimmen. Die Änderungen in den §§ 16 und 90 haben Konsequenzen für die Anordnungsvoraussetzungen, die sich eher negativ umschreiben lassen. Unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit ist Jugendarrest bei leichten Taten und erst recht bei Bagatellkriminalität nicht die angemessene Sanktionsform. Der Anwendungsbereich geht über den mittleren Schweregrad hinaus. Der neue Standort ist hart an der Grenze zur Jugendstrafe. Aus dieser Standortbestimmung ergibt sich eigentlich zugleich die Unzulässigkeit der Verbindung von Jugendarrest mit Jugendstrafe, deren Verhängung nach § 27 (BVerfG ZJJ 2005, 73; BayObLG NStZ- RR 1998, 377) bzw. Vollstreckung nach § 21 zur Bewährung ausgesetzt ist (jetzt aber §§ 8 Abs. 2 S. 2, 16a). Dagegen ist die Verbindung von Jugendarrest mit einer Betreuungsweisung zulässig (BT-Drucks. 11/5829, 38) und sinnvoll, wenn es darum geht, eine Jugendstrafe zu verhindern. Zu warnen ist aber vor vielfältig gemischten „Sanktions-Cocktails“ (Reinecke DVJJ-J 1994, 194 mit einem Beispiel aus der Berliner Praxis: Dauerarrest + sozialer Trainingskurs + Verkehrsunterricht + großer Erste-Hilfe-Kurs + Aufsicht und Leitung durch einen hauptamtlichen Bewährungshelfer gem. § 10). Zur Einschätzung von Koppelungsmöglichkeiten mit neuen ambulanten Maßnahmen, Dünkel/Geng/Kirstein NK 1999, 43.

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      Rechtsgrundlagen für den durch Beschluss verhängten und mit der sofortigen Beschwerde gem. § 65 Abs. 2 angreifbaren Nichtbefolgungsarrest sind die §§ 11 Abs. 3, 15 Abs. 3, 23 Abs. 1 S. 4, 29 S. 2, 88 Abs. 6 S. 1. Daneben eröffnet auch § 98 Abs. 2 OWiG die Möglichkeit einer entsprechenden Arrestverhängung, z.B. auch bei Schulabsentismus. Die unterschiedlichen Bezeichnungen als Ungehorsams-, Beuge- oder Ersatzarrest erklären sich aus den verschiedenen Positionen zur umstrittenen Rechtsnatur dieses Arrestes. Der Nichtbefolgungsarrest ist keine Sanktion gegenüber der zu Grunde liegenden Straftat, sondern eine Reaktion darauf, dass Jugendliche oder Heranwachsende richterliche Weisungen und Auflagen nicht oder nur teilweise erfüllt haben. Insoweit kann man von einer sekundären Reaktionsform sprechen. 1943 zur „Wahrung der Staatsautorität“ geschaffen, wurde diese Arrestform zur „unkritisch angewandten Selbstverständlichkeit in der Bundesrepublik“, die letztlich nur „die Verärgerung des Gerichts“ widerspiegelt (Hinrichs in: DVJJ (Hrsg.), 1990, S. 334). Die Existenzberechtigung des Ungehorsamsarrestes ist umstritten, überzeugend plädiert u.a. Frehsee in: DVJJ (Hrsg.), 1990, 314 ff. für seine Abschaffung (so auch Hinrichs DVJJ-J 1996, 59). Der Gesetzgeber des 1. JGGÄndG wollte so weit nicht gehen, hat aber immerhin in § 65 Abs. 1 S. 3 verankert, dass vor Verhängung eines Jugendarrestes wegen schuldhaften Ungehorsams dem Jugendlichen Gelegenheit zur mündlichen Äußerung zu geben ist, um die Gründe der Nichtbefolgung und die Probleme des jungen Menschen besser einschätzen zu können mit dem Ziel, Arrest ggf. zu vermeiden (BT-Drucks. 11/5829, 28; so auch LG Arnsberg ZJJ 2006, 84, vgl. § 65 Rn. 15). Unzulässig ist die Anordnung eines Dauerarrestes wegen Nichteinhaltung einer Weisung, den Kontakt zur Drogenberatung zu halten, wenn entgegen § 11 Abs. 1 keine Laufzeit bestimmt worden und die Kontaktaufnahme nicht präzisiert ist, LG Bielefeld StV 2002, 175. Ebenso unzulässig ist die Verhängung von Beugearrest mangels Belehrung nach § 11 Abs. 3, wenn ein Jugendlicher einer mit seiner Zustimmung erteilten Weisung, sich einer Therapie zu unterziehen, nicht nachkommt, LG Marburg NStZ-RR 2006, 122.

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      Da die Verhängung des Nichtbefolgungsarrestes im pflichtgemäßen Ermessen („kann“) steht, eröffnen sich der Praxis weitergehendere Alternativlösungen als beim Urteilsarrest. Zur Häufigkeit des Ungehorsamsarrests liegen über längere Zeiträume keine statistischen Daten vor, so dass nicht auf Zahlen zurückgegriffen werden kann. Nach Untersuchungen von Ostendorf (MSchrKrim 1995, 352 ff.) handelt es sich bei zwischen 20 % und 30 %, in manchen Regionen in Abhängigkeit zu dem Gebrauch ambulanter Sanktionen bis zu 50 % der insgesamt vollstreckten Arreste um Ungehorsamsarreste; in Hamburg 2010 fast die Hälfte, Kolberg/Wetzels Praxis der Rechtspsychologie, 2012, S. 113-146. In Nordrhein-Westfalen waren über 50 % der 2007 in der einzigen „Mädchenarrestanstalt“

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