Der Dritte Weg in der Retrospektive. Julia Brandt
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Die historische Entwicklung des Dritten Weges in katholischer Kirche und Caritas wird in der einschlägigen Literatur zum Thema „Dritter Weg“ jeweils nur auf wenigen Seiten mit vereinzelt angegebenen Daten behandelt.16 Es existieren zahlreiche Arbeiten, die sich mit dem Dritten Weg und seinen Rechtsgrundlagen und Begründungselementen befassen und die insbesondere das Verhältnis zwischen kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und Koalitionsfreiheit bearbeiten.17 Das Für und Wider der Autonomie der Kirchen, ihre Arbeitsbedingungen innerkirchlich zu gestalten, soll hier nicht erörtert werden. Auch sollen die bestehenden Begründungen des Dritten Weges nicht auf ihre Rechtfertigung hin untersucht werden. Auch das Verhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht und Koalitionsfreiheit soll nicht näher betrachtet werden, denn das ist bereits in vielen Monografien und Beiträgen zum Dritten Weg geschehen. Vielmehr geht es darum, herauszuarbeiten, aus welchen Gründen der Dritte Weg entstanden ist, ob auch die heutigen Begründungsmodelle die Entstehung des Dritten Weges geprägt haben und welche weiteren Faktoren für die Generierung des heutigen Systems der Regelungen im Arbeitsrecht der Kirchen prägend waren. Nicht zuletzt prägen historische Entwicklungen geltendes Recht – zeithistorisches Interesse wird durch aktuelle Ereignisse motiviert.18 Das gilt mit Blick auf das oben genannte BAG-Urteil19, aber auch für die mittlerweile das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland prägende europäische Rechtsprechung20 und die nicht weniger werdenden öffentlichen Beiträge über das kirchliche Arbeitsrecht, auch für die vorliegende Arbeit. Juristische Zeitgeschichte dient der „Erhellung“ des geltenden Rechts, sie ist „Gelenkstelle zwischen Heute und Gestern“.21
Die Entstehung des Dritten Weges soll zeithistorisch erarbeitet werden. Dabei war zu berücksichtigen, dass Archivalien und statistische Angaben durch geeignete Fragestellungen erschlossen werden müssen. Stets muss das objektivierte Interesse am geschichtlichen Sachverhalt das Erkenntnisinteresse bestimmen.22 Insofern stellen sich insbesondere folgende Fragen:
- Wie sahen die bestehenden Strukturen beider Akteure aus, bevor Caritas und katholische Kirche sich dazu entschieden, Kommissionen zu bilden, die sich mit der Entwicklung des kirchlichen Arbeitsrechts befassen sollten?
- An welchen Strukturen einer Konfliktlösung orientierte man sich? Gab es „Vorgängerregelungen“?
- Welche Prozesse und Denkmuster führten zur Entstehung des Dritten Weges? Wie war der Weg zu dem Entschluss, ein eigenes Arbeitsrechtsregelungsverfahren zu entwickeln?
- War die Caritas Vorreiter des Dritten Weges? Wie lässt sich die divergente Entwicklung in Caritas und verfasster katholischer Kirche erklären?
- Wie entwickelte sich der Dritte Weg über die Jahrzehnte weiter? Welche Phasen der Entwicklung lassen sich ableiten?
- Wie sehen die Umsetzungen der Vorgaben des BAG von 2012 in der Caritas und den Diözesen aus?
An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auswertung archivalischer Quellen nicht der Schluss gezogen werden kann, das tatsächliche Geschehen der Vergangenheit unmittelbar und objektivierbar ablesen zu können.23 In diesem Bewusstsein ist den Archivalien mit gewisser Vorsicht gegenüberzutreten, sind diese doch unverzichtbare Quelle für die hier vorliegende Arbeit.
Inhaltlich nicht im Vordergrund soll die von den Akteuren erarbeitete, materielle Rechtslage stehen. Es geht vielmehr um das System der Regelungsfindung selbst – die Etablierung der arbeitsrechtlichen Kommissionen, deren Aufgaben und Herausforderungen. Freilich wird im Rahmen der Herausforderungen und Aufgaben der Kommissionen auf materielle Themen zurückzukommen sein, hier sei vor allem die Übernahme der Regelungen des BAT/TVöD durch die arbeitsrechtlichen Kommissionen genannt.
Eine zeithistorische juristische Forschung hat zudem die jeweilige allgemeine zeitgeschichtliche Entwicklung im Blick zu halten, die Entstehung des Kommissionensystems muss im Kontext der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Lage betrachtet werden.24 Die Entstehung und Entwicklung des Dritten Weges muss also in den Kontext der jeweiligen Gesamtlebenswirklichkeit eingeordnet werden.
1.Zeitliche Eingrenzung
Die Betrachtung der Entwicklung des Dritten Weges soll zeitlich eingegrenzt werden: In der Caritas nahm das Verfahren der Arbeitsrechtsregelung eine eigene Entwicklung, die bereits Anfang der 1950er Jahre begann.25 Eine historische Einordnung soll dennoch gegeben werden, beginnend mit den Gegebenheiten zur Zeit der Weimarer Republik und der Zeit der NS-Diktatur. Die Neuerungen und Entwicklungen im weltlichen Arbeitsrecht zur Zeit der Weimarer Republik, vor allem die kollektivrechtlichen Möglichkeiten, ihr eventueller Einfluss auf den kirchlichen Bereich und die damit verbundene Fragestellung nach „Vorgängerregelungen“ des Dritten Weges kann nur beantwortet werden, wenn man diesen Zeitabschnitt mitbetrachtet. Das Gleiche gilt für die Zeit des Nationalsozialismus. Diese Zeit des Rechtsnihilismus forderte beide hier betrachteten Akteure heraus und die in dieser Zeit ergangenen Regelungen hatten Auswirkungen auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.26
Den zeitlichen Schwerpunkt bildet in der Caritas die Etablierung und Weiterentwicklung der Kommission ab den 1950er Jahren. In der verfassten katholischen Kirche datieren die Anfänge des Dritten Weges in den 1970er Jahren. Die Novellierungen der Arbeitsrechtsregelungsverfahren, vor allem deren Anlässe und Hintergründe, sollen schließlich bis zum BAG Urteil 2012 und die sich daran anschließenden Diskussionen um die neuen Anforderungen nachgezeichnet werden. Ziel ist es, den Ablauf der Willensbildung aufzudecken. Welche Strukturen bestanden, bevor die überbetriebliche Mitwirkungsmöglichkeit der Dienstnehmer etabliert wurde? Was war die ursprüngliche Absicht der Verantwortlichen? Welche Interessen und Überlegungen gab es? Welche Veränderungen haben die Absichten der Verantwortlichen im Laufe der Zeit erfahren?
2.Örtliche Eingrenzung
Die Untersuchung der Entstehung des Dritten Weges und seiner weiteren Entwicklung bezieht sich während der Zeit der Teilung Deutschlands auf das Gebiet der BRD. Die hier beschriebene Entwicklung vollzieht sich ab den 1950er Jahren in der Caritas und ab den 1970er Jahren auf dem Gebiet der westdeutschen Diözesen. In der DDR hatte die vom SED-Staat erlassene Anordnung über die arbeitsrechtliche Stellung der in kirchlichen Einrichtungen beschäftigten Arbeiter und Angestellten vom 18.01.1958 zur Folge, dass eine kircheneigene Arbeitsvertragsordnung („Arbeitsvertragsordnung für den kirchlichen Dienst“ – AVO) für alle in einem Arbeitsrechtsverhältnis stehenden Mitarbeiter und für alle Einrichtungen der Katholischen Kirche galt.27 Die in Westdeutschland entwickelten, kollektivrechtlichen Grundlagen des kirchlichen Arbeitsrechts (Mitarbeitervertretungsrecht und KODA-System) wurden jedoch erst nach der Wiedervereinigung übernommen.28
Im Rahmen der Eingrenzung ist auch zu erwähnen, dass es „den Einen“ Dritten Weg streng genommen nicht gibt, vielmehr sind es verschiedene Ausgestaltungen des Dritten Weges in den einzelnen Bistümern und der Caritas.29 Allerdings orientieren diese sich an den Rahmenvorgaben übergeordneter Akteure, die eine einheitliche Grundstruktur vorgeben. Diese Entstehung der Grundstruktur und ihre weiteren Ausformungen sollen Gegenstand der Darstellung sein. Es geht hier aber nicht darum, für jedes einzelne Bistum die über Jahrzehnte entwickelte Ordnung darzustellen. Wenn es an geeigneter Stelle auf die Umsetzung in den Bistümern ankommt, wird vereinzelt darauf hingewiesen. Näher betrachtet werden an geeigneter Stelle die Bistümer in NRW, insbesondere das Erzbistum Köln.
3.Personale Eingrenzung
Die kirchlichen Beschäftigten lassen sich in drei Gruppe einteilen: die Gruppe der Angehörigen von Orden