Der Dritte Weg in der Retrospektive. Julia Brandt
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Das Verständnis des Selbstbestimmungsrechts in der jeweils betrachteten Zeit (während der Weimarer Republik, während des Dritten Reiches und nach dem Zweiten Weltkrieg) soll in dieser Arbeit kurz aufgegriffen werden. Wenn auch das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV nicht der einzige und entscheidende Faktor für die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen in der Caritas und der verfassten katholischen Kirche gewesen sein mag, sondern diese von weiteren Umständen abhing, so müssen doch die staatskirchenrechtlichen Vorgaben in den jeweiligen Verfassungen und ihre Relevanz für die arbeitsrechtliche Ordnung betrachtet werden. Vor allem aber soll der Einfluss des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV auf die Generierung des Dritten Weges untersucht werden. Haben die in den Entscheidungsgremien der Caritas und der verfassten katholischen Kirche Verantwortlichen sich bei der Schaffung der Regelungen bewusst am Verfassungsrecht orientiert und die Entscheidung eines eigenen kollektiven Arbeitsrechtsverfahrens anhand dieser Orientierung getroffen? Hat eine bewusste Überlegung zur Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts die Entscheidung schließlich hervorgerufen?
2.Der Gedanke der Dienstgemeinschaft
Neben dem verfassungsrechtlich verankerten Selbstbestimmungsrecht ist das Leitbild der kirchlichen Dienstgemeinschaft ein „Schlüsselbegriff des kirchlichen Arbeitsrechts“58 und eine weitere tragende Begründung für die eigenen Kollektivverfahren der Kirchen. Es handelt sich bei diesem Begriff jedoch nicht um eine eigenständige Rechtsquelle.59 Die Dienstgemeinschaft ist kein Verband im Rechtssinne, sondern drückt aus, was das Proprium im Dienst der Kirche ist, wie sie ihren Dienst erbringt.60 Der Begriff der Dienstgemeinschaft beschreibt den religiös geprägten Sendungsauftrag: Der Dienst aller Beschäftigten im kirchlichen Bereich wird demnach vom Wesen und Auftrag der Kirche beherrscht.61 Sowohl in der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse62 als auch in den Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes (AVR)63 wird der Begriff der Dienstgemeinschaft umschrieben.64 Eindeutig ist der Gehalt dieses Begriffes jedoch nicht geklärt, vielmehr weist er sowohl theologische, soziologische und auch arbeitsrechtliche Ebenen auf.65 Das Leitbild der Dienstgemeinschaft wird im kollektiven Arbeitsrecht bemüht, um besondere Regelungen im kirchlichen Bereich zu legitimieren.66 In Art. 7 Abs. 2 S. 1 GrO heißt es: „Wegen der Einheit des kirchlichen Dienstes und der Dienstgemeinschaft als Strukturprinzip des kirchlichen Arbeitsrechts schließen kirchliche Dienstgeber keine Tarifverträge mit Gewerkschaften ab“. Der Begriff der Dienstgemeinschaft wurde und wird dazu genutzt, kirchliche Beschäftigungsverhältnisse von anderen Beschäftigungsverhältnissen abzugrenzen.67 Der Begriff hält fest, dass sich die Gestaltung des Arbeitsrechts in Kirche und Caritas nicht allein an den Notwendigkeiten eines ökonomischen Betriebes orientieren darf.68 Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ausrichtung der Arbeitsbedingungen unter Zugrundelegung dieses Leitbildes durch die Kirchen und ihre Einrichtungen ist von der Rechtsprechung bestätigt worden.69 Diese Anerkennung führt dazu, dass dem bürgerlich-rechtlichen Arbeitsverhältnis das Strukturelement der Dienstgemeinschaft zugrunde liegt, es entsteht nicht etwa ein kirchenrechtliches Statusverhältnis.70 Bis heute ist der Begriff nicht unumstritten, sondern wird durchaus skeptisch gesehen, insbesondere da er keine theologische Auslegungstradition vorweisen kann.71
Es stellt sich im Hinblick auf das Leitbild der Dienstgemeinschaft historisch betrachtet ebenfalls die Frage, ob dieses auch ursprünglich die Entstehung des Dritten Weges geprägt hat. Wie zu sehen sein wird, taucht der Begriff der Dienstgemeinschaft zunächst in den 1936 erlassenen Tarifordnungen für die dem DCV angeschlossenen Anstalten auf, ehe er dann mit den ersten AVR der Caritas 1949 wieder Eingang in arbeitsrechtliche Regelungen der Caritas findet. Der Gedanke, dass eigene Vertragsordnungen und Verfahren im kirchlichen Arbeitsrecht eher auf Akzeptanz stoßen, wenn sie theologische Hintergründe vorweisen können, tauchte zu Beginn der 1950er Jahre so bereits in den Entscheidungsgremien der Caritas auf.
38BAG 20.11.2012 - 1 AZR 179/11.
39BAG 20.11.2012 - 1 AZR 179/11.
40BVerfG 04.06.1985 - 2 BvR 1703/83; BAG 20.11.2012 - 1 AZR 179/11; zuvor bereits Jurina, Das Dienst- und Arbeitsrecht im Bereich der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 29 ff.; zum kirchlichen Selbstverständnis und seinen Modifikationen im Arbeitsrecht Herbolsheimer, Arbeitsrecht in kirchlicher Selbstbestimmung, S. 90 ff.
41Reichold, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 160, Rn. 1 m.w.N.
42Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse (GrO) v. 27. April 2015.
43BVerfG 22.10.2014 - 2 BvR 661/12; das bedeutet freilich nicht, dass jede einzelne Einrichtung zur Etablierung eines kirchenarbeitsrechtlichen Kollektivsystems befugt ist, denn die wesentliche staatskirchenrechtliche Beziehung zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht besteht zwischen dem Staat und der jeweiligen Religionsgemeinschaft, nicht aber zu deren jeweiliger Einrichtung. Solche Einrichtungen nehmen allerdings über die verfasste Kirche an deren Selbstbestimmungsrecht teil, können sich aber insoweit nicht auf eine eigenständige, insbesondere nicht auf eine von der amtskirchlichen Position abweichende Position berufen, näher Dütz, NZA 2008, 1383 ff.
44Rüfner, Die Bedeutung der verbandlichen Caritas, in: Feldhoff/Dünner (Hrsg.): Die verbandliche Caritas, S. 170, 171 mit Verweis auf BVerfG 16.10.1968 - 1 BvR 241/66; BVerfG 11.10.1977 - 2 BvR 209/76.
45Hillgruber, KuR 2018, 3; zum Verhältnis des Art. 4 GG zu Art. 140 GG; Arleth, Das Recht kirchlicher Arbeitnehmer auf Streik, S. 74 ff.; Classen, Religionsrecht, Rn. 36 ff.; von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, S. 76; Czermak/Hilgendorf, Religions- und Weltanschauungsrecht, Rn. 137; Korioth, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 137 WRV, Rn. 20-22.
46BVerfG 1.12.2009 - 1 BvR 2857/07, Rn. 127 ff.
47Landau, Die Rechtsprechung des BVerfG zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen im Bereich ihrer Arbeitsverhältnisse anhand des Chefarzt-Beschlusses vom 22. Oktober 2014 in: Reichold (Hrsg.), Führungskultur und Arbeitsrecht in kirchlichen Einrichtungen, S. 35.
48Landau, Die Rechtsprechung des BVerfG zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen im Bereich ihrer Arbeitsverhältnisse anhand des Chefarzt-Beschlusses vom 22. Oktober 2014 in: Reichold (Hrsg.), Führungskultur und Arbeitsrecht in kirchlichen Einrichtungen, S. 35.
49Zur Entwicklung siehe hier nur: Arleth, Das Recht kirchlicher Arbeitnehmer auf Streik, 2016, S. 100 ff.
50Unruh in: v. Mangold/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl., 2018., Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 42.
51BVerfG 22.10.2014 - 2 BvR 661/12.
52Unruh in: v. Mangold/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl., 2018., Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 42.
53Keßler, Die Kirchen und das Arbeitsrecht, S. 342; Nitsche in: Däubler (Hrsg.), Arbeitskampfrecht, § 18 Rn. 112; Schatz, Arbeitswelt Kirche, S. 36.
54Nitsche, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 18 Rn. 113, der von einer sinnvariierenden Bedeutung des Art. 137 WRV ausgeht, welche es ermögliche, die dort genannten Schranken des für alle geltenden Gesetzes als variable, von der Kirche verschiebbare Schranken zu verstehen. Nach Nitsche war die Herausnahme der Kirchen aus dem BetrVG Anfang der 1950er Jahre eine politisch motivierte Entscheidung; dazu auch unten B. III. 2. a).