Die Blinde. Уилки Коллинз
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Ich habe bereits erwähnt, daß Lucilla und ich den ganzen Nachmittag recht nach Frauenart damit zugebracht hatten, über uns selbst zu plaudern. Zum; besseren Verständniß des Gedankenganges, den ich bei meinen Erzählungen verfolgte, will ich hier der Hauptsache nach das erzählen, was mir Lucilla über ihre eigenthümliche Stellung in dem Hause ihres Vaters mitgetheilt hatte.
Sechstes Kapitel.
Ein Käfig voll von Finch’s
Es giebt nach meinen Erfahrungen große Familien von zweierlei Art. Familien, deren Glieder alle einander bewundern, und solche, deren Glieder sich unter einander verabscheuen. Ich für meinen Theil ziehe die zweite Art vor. Ihre Zänkereien sind ihre Sache und sie haben einen Vorzug, den die erstere Art nicht besitzt, den nämlich, daß sie bisweilen im Stande sind, die guten Eigenschaften von Personen zu erkennen, welche nicht das Glück haben, ihre Blutsverwandten zu sein. Die Familien, deren Glieder sich alle unter einander bewundern, sind mit einer unerträglichen Selbstgefälligkeit behaftet. Wenn man mit solchen Leuten zufällig von Shakespeare als einem Typus höchster geistiger Begabung spricht, kann man sicher sein, daß ein weibliches Mitglied der Familie Einem zu verstehen geben wird, man würde ein viel schlagenderes Beispiel angeführt haben, wenn man sie auf ihren »lieben Papa« verwiesen hätte. Geht man aber mit einem männlichen Mitgliede dieser Familie spazieren und sagt von einer vor übergehenden Dame: »Welch’ ein reizendes Geschöpf!« so kann man sich darauf verlassen, daß der Mann über unsere Einfalt lächelt und verwundert fragt: ob man nie seine Schwester in Balltoilette gesehen habe? Das sind die Familien, deren Glieder, wenn sie getrennt sind, täglich mit einander correspondiren. Sie lesen uns Auszüge aus ihren Briefen vor und sagen: »Wo ist der Schriftsteller, der so zu schreiben versteht?« Sie reden in unserer Gegenwart von ihren Privatangelegenheiten und scheinen zu meinen, daß wir uns dafür interessiren müßten; sie amüsieren sich über Tisch über ihre eigenen Witze und können nicht begreifen, daß wir uns nicht auch amüsieren. In häuslichen Kreisen dieser Art sitzen die Schwestern gewöhnlich auf dem Schoße ihrer Brüder und erkundigen sich die Männer so ungenirt nach den körperlichen Beschwerden ihrer Frauen, als wenn sie mit ihnen allein wären. Wenn wir einmal in einem fortgeschritteneren Stadium der Civilisation angelangt sein werden, wird der Staat dafür sorgen, daß diese unerträglichen Menschen in Käfige gesperrt und daß an die Straßenecken Anschlagszettel geklebt werden, auf welchen zu lesen stehen wird: »Man hüte sich vor Numero Zwölf: da wohnt eine Familie die sich im Zustande gegenseitiger Bewunderung befindet.«
Aus Lucilla’s Mittheilungen ersah ich, daß die Finchs zu der zweiten oben erwähnten Art großer Familien gehören. Kaum ein einziges Mitglied dieser Familie stand mit dem andern auch nur auf einem Sprechfuß. Und einige von ihnen waren Jahrelang von einander getrennt gewesen, ohne auch nur ein einziges Mal die Post für die Beförderung eines noch so knappen Ausdrucks ihrer Gefühle gegen einander in Anspruch genommen zu haben. Die erste Frau des ehrwürdigen Finch war ein Fräulein Batchford gewesen; die Mitglieder ihrer Familie, welche zur Zeit ihrer Verheirathung nur aus einem Bruder und aus einer Schwester bestanden, waren mit dieser Partie sehr unzufrieden; der Rang eines Finch – ich lache über diese erbärmlichen Rangunterschiede —, wurde in diesem Falle dem Range eines Batchford nicht ebenbürtig befunden. Nichtsdestoweniger heirathete Fräulein Batchford den Ehrwürdigen Finch; ihr Bruder und ihre Schwester lehnten es ab, der Trauung beizuwohnen. Das war der erste Zank. Lucilla wurde geboren; der ältere Bruder des Ehrwürdigen Finch, der mit keinem anderen Mitgliede der Familie sprach, trat mit dem christlichen Vorschläge hervor, sich über der Wiege des neugebornen Kindes die Hände zu reichen. Der Vorschlag wurde von den großherzigen Batchfords angenommen. Erste Versöhnung. Die Zeit verging; der Ehrwürdige Finch, der damals ein kärglich besoldeter Pfarrgehilfe an einer Kirche in der Nähe einer großen Fabrikstadt war, fühlte einen Mangel, nämlich den Mangel an Geld, und nahm sich eine Freiheit, nämlich die Freiheit, von seinem Schwager Geld zu borgen. Herr Batchford, der ein reicher Mann war, betrachtete diese Eröffnung, wie wohl kaum bemerkt zu werden braucht, in dem Lichte einer Insulte. Fräulein Batchford trat auf die Seite ihres Bruders. Das war der zweite Zank. Wieder verging die Zeit. Die erste Frau Finch starb. Der ältere Bruder des ehrwürdigen Finch, der noch immer mit den übrigen Mitgliedern der Familie auf dem schlechtesten Fuße stand, machte einen zweiten christlichen Vorschlag, nämlich sich über dem Grabe der verstorbenen Frau die Hände zu reichen. Auch dieser Vorschlag wurde von den trauernden Bartchfords angenommen. Und eine zweite Versöhnung erfolgte. Wieder verging die Zeit. Der Ehrwürdige Finch, der nun Wittwer war und eine Tochter hatte, machte die Bekanntschaft eines Bewohners der großen Stadt, in deren Nähe er als Pfarrgehilfe fungirte, welcher gleichfalls Wittwer war und eine Tochter hatte. Dieser Wittwer war seinem social-politisch-religiösen Stande nach ein radicaler baptistischer Schuster. Der Ehrwürdige Finch, der noch immer an Geldmangel litt, setzte sich über das Alles weg und heirathete die Tochter mit einer Mitgift von dreitausend Pfund. Dieses Verfahren entfremdete ihm für immer nicht nur die Batchfords, sondern auch den friedenstiftenden älteren Bruder. Dieser vortreffliche Christ stand von nun an mit seinem Bruder wie mit der übrigen Familie auf gespanntem Fuße. Die Folge davon war die vollständige Isolirung des Ehrwürdigen Finch. Die zweite Frau Finch gab regelmäßig jedes Jahr Gelegenheit sich die Hände zu reichen, nicht nur über einer Wiege, sondern bisweilen über zwei Wiegen. Aber diese so verdienstliche Fruchtbarkeit blieb doch fruchtlos! Dieselbe führte zu nichts als einer Art von Compromiß; Lucilla, aus welche bei der raschen Zunahme der zweiten Familie des Rectors wenig mehr geachtet wurde, erhielt Erlaubniß, ihre mütterliche Tante und ihren mütterlichen Onkel jedes Jahr zu bestimmten Zeiten zu besuchen. Das arme Kind, welches allem Anscheine nach bei seiner Geburt im vollen Besitze seiner Sehkraft gewesen, war noch vor vollendetem ersten Lebensjahre unheilbar erblindet. In allen an deren Beziehungen war sie ihrer Mutter auffallend ähnlich. Der ledige Onkel Batchford und seine alte ledige Schwester faßten beide die zärtlichste Zuneigung zu dem Kinde. »Unsere Nichte Lucilla,« sagten sie, »hat unsere innigsten Hoffnungen erfüllt, sie ist eine Batchford, keine Finch!« Lucilla’s Vater aber, der um diese Zeit zum Pfarrer von Dimchurch befördert war, sagte nur: »Laßt sie nur reden. Wartet nur ein wenig und die Sache wird uns Geld bringen.« Und Geld brauchte er allerdings sehr; bei der Fruchtbarkeit von Frau Finch, welche Jahr für Jahr die Zahl ihrer Wiegen um eine vermehrte, bis der im Jahrgehalt stehende Hausarzt selbst der Sache überdrüssig wurde und eines Tages äußerte: »Es ist nicht wahr, daß Alles ein Ende hat; die Vervielfältigungsfähigkeit von Frau Finch hat kein Ende.«
Lucilla wuchs heran und hatte das zwanzigste Jahr erreicht, bevor sich die Hoffnungen ihres Vaters verwirklichten und Geld zum Vorschein kam. Onkel Batchford starb unverheirathet und hinterließ sein Vermögen seiner ledigen Schwester und seiner Nichte zu gleichen Theilen. Die Zinsen, deren Lucilla nach Eintritt ihrer Volljährigkeit sich zu erfreuen haben sollte, betrugen jährlich fünfzehnhundert Pfund. Diese Erbschaft war jedoch an zwei in dem Testament sehr ausführlich entwickelte Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen liefen darauf hinaus: Erstens es dem ehrwürdigen Finch vollkommen unmöglich zu machen, unter irgend welchen Umständen einen Heller des Lucilla hinterlassenen Vermögens von ihr zu erben und zweitens, Lucilla, so lange sie unverheirathet bleibe, während eines Zeitraums von drei Monaten in jedem Jahr aus dem Hause ihres Vaters zu entfernen und unter die Obhut ihrer ledigen Tante zu stellen.
Das Testament sprach sich über den Zweck dieser letzten Bedingung in der unumwundensten Weise aus: »Ich sterbe wie ich gelebt habe,« hieß es in dieser letztwilligen Verfügung Onkel Batchford’s, »als ein Anhänger der Hochkirche und ein Tory. Mein Vermächtniß an meine Nichte soll nur unter folgenden Bedingungen gültig sein, nämlich: daß sie während eines bestimmten, periodisch wiederkehrenden Zeitraums den religiös dissentirenden und politisch radicalen Einflüssen im Hause ihres Vaters entzogen und unter die Obhut einer englischen Dame gestellt werde, welche mit den Vortheilen der Geburt und Erziehung den Besitz reiner und ehrenwerther Principien verbindet « u.s.w. u.s.w.
Man kann sich vorstellen, was der Ehrwürdige Finch empfand, als er an der Seite seiner Tochter nebst