Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Was machen Sie denn für Sachen, Frau Bremer?«, fragte Daniel und zog sich einen Stuhl neben das Sofa.
Oliver war inzwischen dazugekommen. Er stand in der Tür und beobachtete skeptisch die Bemühungen des Arztes.
»Ich hab ihr Traubenzucker gegeben, genau, wie Sie gesagt haben.«
Martha Bremer schickte ihrem Bekannten einen dankbaren und ein wenig unsicheren Blick. Es war ihr nicht recht, dass er sie so sah. Nicht nach dieser kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft. Eine erste zarte Verliebtheit wuchs wie ein scheues Pflänzchen zwischen ihnen, und sie fürchtete nicht nur um ihre Gesundheit sondern auch um das empfindliche Pflänzchen.
»So ein fürsorglicher Mann«, lobte sie und rang sich ein mattes Lächeln ab. »Ich habe dir einen solchen Schrecken eingejagt.«
»Was ist denn genau passiert?«, wollte Daniel wissen, um sich zu vergewissern, dass seine Ahnung richtig war.
»Martha und ich waren gestern Abend in einem Klavierkonzert. Ach, es war so herrlich!«, geriet Oliver bei dieser Erinnerung unvermittelt ins Schwärmen. Seit vielen Jahren war er Witwer und hatte sich schon damit abgefunden, den Rest seines Lebens allein verbringen zu müssen. Da war die lebendige Martha wie ein bunter Schmetterling in sein Leben geflattert und bereicherte es seither mit schönen Ideen und Unternehmungen. Schon jetzt wollte er sie nicht mehr missen.
»Der arme Oliver muss ganz schön viel aushalten mit mir«, erläuterte Martha nebenbei. »Jeden Abend fällt mir etwas anderes ein. Dabei hatte er vorher ein so beschauliches Leben.«
Oliver Herrmann lächelte zärtlich.
»Langweilig passt viel besser«, gestand er warm. »Wir haben sogar Wein getrunken, und ich habe mich erst nach Mitternacht verabschiedet. Als ich heute Morgen wieder kam, war noch alles dunkel. Deshalb habe ich mit dem Ersatzschlüssel aus dem Blumenbeet aufgeschlossen.«
»Jetzt hast du mein Versteck verraten!«, fiel Martha ihm ins Wort.
Unwillkürlich musste Daniel Norden schmunzeln. Das verliebte Geplänkel des alten Paares war rührend und erinnerte ihn an zwei Jugendliche. Es war tröstlich zu erleben, dass Liebe kein Alter kannte und dass es nie zu spät war, dieses Wunder und Glück zu erleben.
»Keine Angst. Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben«, versicherte Dr. Norden ernsthaft.
Oliver räusperte sich verlegen.
»Ich schlich mich also ins Haus und wollte sie mit einem Frühstück überraschen. Martha kam erst, als ich schon dabei war, den Kaffee zu kochen und den Tisch zu decken«, berichtete Oliver, und sein Blick wurde wieder besorgt. »Da begann sie auf einmal zu zittern. Der Schweiß lief ihr über die Stirn, und sie war furchtbar unruhig. Ich wusste nicht, was los war. Deshalb habe ich Sie gleich angerufen.« Nach dem überstandenen Schreck verließen Oliver Herrmann langsam aber sicher die Nerven. Die Angst, seine reizende Martha wieder verlieren zu können, jetzt, wo er sie nach den Jahren der Einsamkeit endlich gefunden hatte, ließ seine Unterlippe zittern. »Ich hatte keine Ahnung, dass Martha zuckerkrank ist.« Noch im Nachhinein wurden seine Knie weich, und er sank auf einen der Stühle, die am Esstisch standen.
»Ich wollte es dir nicht sagen aus Angst, dass du dann nichts mehr mit mir zu tun haben willst«, gestand Martha leise und wagte es nicht, Oliver anzusehen.
»Gut, dass Sie mich gleich angerufen haben«, lobte Daniel Norden. »Und glücklicherweise ist ja noch mal alles gerade gut gegangen.« Nachdem er Puls und Blutdruck seiner Patientin gemessen hatte, entnahm er einen Tropfen Blut aus der Fingerkuppe, um den Blutzuckerspiegel mit einem entsprechenden Gerät zu testen. »Ich verabreiche Ihnen jetzt eine Insulininjektion. Dann sind Sie bald wieder auf den Beinen.«
Aus halb geschlossenen Augen sah Martha Bremer ihrem Hausarzt zu, wie er eine Spritze mit hauchfeiner Nadel aufzog und ihr das Medikament verabreichte.
»Sie sind ein wahrer Engel!«, seufzte sie zufrieden und schloss die Augen. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Indem Sie die Diabetes-Sprechstunde in der Behnisch-Klinik wahrnehmen«, erklärte Daniel streng. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er der eigensinnigen Dame diese Maßnahme schon ans Herz gelegt hatte. Bisher vergeblich. »Dort werden Sie vernünftig auf die erforderliche Menge Insulin eingestellt, und Ihnen wird genau erklärt, wie Sie mit Ihrer Krankheit umgehen sollen, was erlaubt und was verboten ist. Mit einer Unterzuckerung ist nämlich nicht zu spaßen. Durch die erhöhte Adrenalin-Ausschüttung kann er Blutdruck und Kreislauf erhöhen und unter Umständen sogar zu einem Herzinfarkt führen.«
»Oh mein Gott, Martha!«, rief Oliver erschrocken. Drohend wie zwei Gewitterwolken schoben sich seine Augenbrauen zusammen. »Warum warst du nicht längst bei dieser Sprechstunde? Das ist unverantwortlich. Du musst besser auf dich aufpassen. Ich brauche dich doch noch.«
»Ach, du siehst doch …« Martha wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Augen glänzten feucht, und sie winkte rasch ab. »Unkraut vergeht nicht.«
»Ich fahre gleich im Anschluss in die Klinik«, nutzte Daniel Norden die günstige Gelegenheit. Zufällig wusste er, dass die Kollegin an diesem Wochenende Dienst hatte. »Sie könnten gleich mitfahren. Die Diabetes-Ärztin Dr. Kathrin Kober wird sich mit Freuden um Sie kümmern.«
»Nicht nötig, lieber Doktor, nicht nötig.« Wie um Daniel ihre neu erwachte Energie zu beweisen, setzte sich Martha auf dem Sofa auf.
Doch diesmal erhielt Dr. Norden Schützenhilfe.
»Natürlich ist das nötig, liebe Martha«, erstickte Oliver Herrmann jeden Widerspruch im Keim, indem er aufstand und die Kostümjacke seiner späten Liebe brachte und ihr auch gleich dabei half, die Hausschuhe gegen ein schickes Paar Slipper zu tauschen. Marthas schwachen Protest erstickte er resolut im Keim.
Schmunzelnd beobachtet Daniel Norden die Prozedur. Das, was er in vielen Monaten nicht geschafft hatte, gelang diesem Herrn in wenigen Minuten. Und wieder einmal stellte er fest, dass die Macht der Liebe wahre Wunder bewirken konnte und an Durchsetzungskraft nicht zu überbieten war.
*
Als Wendy an diesem Samstagmorgen erwachte, brummte ihr der Kopf. Eine Weile lag sie reglos in ihrem Bett und versuchte herauszufinden, woher die Kopfschmerzen rührten. Und das ungute Gefühl in ihrem Magen, das sie bis in ihren verworrenen Traum hinein verfolgt hatte.
Als sie ein Geräusch in der Wohnung hörte, fuhr sie wie von der Tarantel gebissen hoch.
»Meine Güte, was habe ich getan?«, flüsterte sie entsetzt. Mit einem Schlag war ihr alles wieder eingefallen. »Wie konntest du das nur tun? Annemarie? Wie konnte dir das passieren? Schließlich bist du kein dummer Teenager mehr sondern eine erwachsene Frau. Du musst den Verstand verloren haben!«
Selten hatte sie ein schlechteres Gewissen gehabt und strafte sich selbst mit einer eiskalten Dusche. Doch das war bei Weitem noch nicht Strafe genug für ihre grenzenlose Naivität.
»Ich wusste es!«, setzte sie ihr Selbstgespräch vor dem Badezimmerspiegel fort. »Ich hätte ihn nicht reinlassen sollen.« Mit dem Zeigefinger deutete sie drohend auf ihr Spiegelbild. »Das hast du nun von deinem ewigen Mitgefühl, von deinem butterweichen Herz.« Sie verdrehte die Augen. »Und dann noch der viele Wein. Oh, ich glaube, mir wird schlecht.« Einen kurzen Augenblick liebäugelte sie damit, ins Bett zurückzukehren