Gesammelte Werke. Фридрих Вильгельм Ðицше
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Die nihilistische Bewegung ist nur der Ausdruck einer physiologischen décadence.
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Zu begreifen: – Daß alle Art Verfall und Erkrankung fortwährend an den Gesammt-Werthurtheilen mitgearbeitet hat: daß in den herrschend gewordnen Werthurtheilen die décadence sogar zum Übergewicht gekommen ist: daß wir nicht nur gegen die Folgezustände alles gegenwärtigen Elends von Entartung zu kämpfen haben, sondern alle bisherige décadence rückständig, das heißt lebendig geblieben ist. Eine solche Gesammt-Abirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten, eine solche Gesammt-décadence des Werthurtheils ist das Fragezeichen par excellence, das eigentliche Räthsel, das das Thier »Mensch« dem Philosophen aufgiebt.
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Begriff »décadence«. – Der Abfall, verfall, Ausschuß ist Nichts, was an sich zu verurtheilen wäre: er ist eine notwendige Konsequenz des Lebens, des Wachsthums an Leben. Die Erscheinung der décadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand, sie abzuschaffenen. Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wird.
Es ist eine Schmach für alle socialistischen Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche Combinationen, unter denen das Laster, die Krankheit, das Verbrechen, die Prostitution, die Noth nicht mehr wüchse… Aber das heißt das Leben verurtheilen … Es steht einer Gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben. Und noch in ihrer besten Kraft muß sie Unrath und Abfallsstoffe bilden. Je energischer und kühner sie vorgeht, umso reicher wird sie an Mißglückten, an Mißgebilden sein, umso näher dem Niedergang sein… Alter schafft man nicht durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. Das Laster auch nicht.
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Grundeinsicht über das Wesen der décadence: was man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen.
Damit verändert sich die ganze Perspektive der moralischen Probleme.
Der ganze Moral-Kampf gegen Laster, Luxus, Verbrechen, selbst Krankheit erscheint als Naivetät, als überflüssig: – es giebt keine »Besserung« (gegen die Reue).
Die décadence selbst ist Nichts, was zu bekämpfen wäre: sie ist absolut nothwendig und jeder Zeit und jedem Volk eigen. Was mit aller Kraft zu bekämpfen ist, das ist die Einschleppung des Contagiums in die gesunden Theile des Organismus.
Thut man das? Man thut das Gegentheil. Genau darum bemüht man sich seitens der Humanität. – Wie verhalten sich zu dieser biologischen Grundfrage die bisherigen obersten Werthe? Die Philosophie, die Religion, die Moral, die Kunst u.s.w.
(Die Cur: z.B. Militarismus, von Napoleon an, der in der Civilisation seine natürliche Feindin sah.)
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Was man bisher als Ursachen der Degeneration ansah, sind deren Folgen.
Aber auch, was man als Heilmittel gegen die Entartung betrachtet, sind nur Palliative gegen gewisse Wirkungen derselben: die »Geheilten« sind nur ein Typus der Degenerirten.
Folgen der décadence: das Laster – die Lasterhaftigkeit; die Krankheit – die Krankhaftigkeit; das Verbrechen – die Criminalität; das Cölibat – die Sterilität; der Hysterismus – die Willensschwäche; der Alkoholismus; der Pessimismus; der Anarchismus; die Libertinage (auch die geistige). Die Verleumder, Untergraber, Anzweifler, Zerstörer.
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Zum Begriff »décadence«.
1) Die Skepsis ist eine Folge der décadence: ebenso wie die Libertinage des Geistes.
2) Die Corruption der Sitten ist eine Folge der décadence (Schwäche des Willens, Bedürfniß starker Reizmittel –).
3) Die Curmethoden, die psychologischen und moralischen, verändern nicht den Gang der décadence, sie halten nicht auf, sie sind physiologisch null –:
Einsicht in die große Nullität dieser anmaßlichen »Reaktionen«; es sind Formen der Narkotisirung gegen gewisse fatale Folge-Erscheinungen; sie bringen das morbide Element nicht heraus; sie sind oft heroische Versuche, den Menschen der décadence zu annulliren, ein Minimum seiner Schädlichkeit durchzusetzen.
4) Der Nihilismus ist keine Ursache, sondern nur die Logik der décadence.
5) Der »Gute« und der »Schlechte« sind nur zwei Typen der décadence: sie halten zu einander in allen Grundphänomenen.
6) Die sociale Frage ist eine Folge der décadence.
?) Die Krankheiten, vor allen die Nerven- und Kopfkrankheiten, sind Anzeichen, daß die Defensiv-Kraft der starken Natur fehlt; ebendafür spricht die Irritabilität, sodaß Lust und Unlust die Vordergrunds-Probleme werden.
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Allgemeinste Typen der décadence
1) man wählt, im Glauben, Heilmittel zu wählen, Das, was die Erschöpfung beschleunigt; – dahin gehört das Christenthum (um den größten Fall des fehlgreifenden Instinkts zu nennen); – dahin gehört der »Fortschritt« –
2) man verliert die Widerstands-Kraft gegen die Reize, – man wird bedingt durch die Zufälle: man vergröbert und vergrößert die Erlebnisse in’s Ungeheure…