Letzte Fahrt. Robert Falcon Scott
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Inzwischen war eins der Walfischboote ins Wasser gelassen worden, und Wilson, Griffith Taylor, Priestley, Evans und ich ruderten an Land. Die Achterwache, Oates, Atkinson und Cherry-Garrard, wollte es sich nicht nehmen lassen, die Riemen selbst zu führen; so konnte die Mannschaft an Deck bleiben und Cherry-Garrard fing bei dieser Gelegenheit einige Taschenkrebse.
Ich wollte die Möglichkeit einer Landung prüfen; vor allem hoffte ich festzustellen, ob zwischen dem Presseisrücken und den Felsen, auf dem Weg, den einst Royds zum Brutplatz der Kaiserpinguine hinuntergestiegen war, durchzukommen sei. Aber als wir uns der Ecke näherten, stellte sich heraus, dass sich eine große schmutzige Scholle Meereis zwischen Barriere und Felsen eingeklemmt und so stark aufwärts gekrümmt hatte, dass sie über einen Meter hoch über dem Wasser stand. Dabei brandete die Dünung so heftig zwischen den treibenden Eisblöcken längs des wirklichen Strandes und seines Eisfußes, dass von Landen gar keine Rede sein konnte; es wäre nur unser Boot zerschellt und wir alle wären miteinander ins Wasser gefallen.
Ich litt Tantalusqualen – nicht nur wegen der Unmöglichkeit der Landung überhaupt. Gerade auf diesem Stück alten Buchteises, etwa 2 Meter über uns, war ein lebendiges Pinguinküken trostlos gestrandet und dicht neben ihm schlief eines der getreuen Pinguineltern. Das Küken aber war in einem Alter und einem Entwicklungsstadium, in dem noch keiner von uns den Kaiserpinguin gefangen oder untersucht hatte: Es war im Begriff, seine Daunen zu verlieren, die Flügelstummel waren bereits ganz daunenfrei und genauso gefiedert wie die der ausgewachsenen Vögel; teilweise hatten auch schon der Kopf und, wie bei der gewöhnlichen Mauserung, ein senkrecht die Brust hinunterlaufender Streifen die Daunen abgeworfen. Es wäre also ein Triumph gewesen, dieses Küken dingfest zu machen, aber wir konnten nicht heran und ich durfte seinetwegen nicht unser aller Leben aufs Spiel setzen. So musste es denn bleiben, wo es war, da oben auf der einen Quadratmeter großen Eisscholle, dem verlassenen Überbleibsel einer blühenden Pinguinkolonie, die vor etwa Monatsfrist auf dem schwimmenden Buchteis nordwärts in See gegangen war. Rings war so viel blitzsauberes Eis, wie sie sich nur wünschen konnten – aber diese beiden Zurückgebliebenen hatten geduldig auf ihrer schmutzigen Scholle, die jetzt über dem Wasserspiegel emporgepresst war, gewartet und sich wohl alle Tage gewundert, dass sie sich nicht endlich auch der allgemeinen Auswanderung anschließen sollten. Der Vorfall war in jeder Beziehung interessant und führte auf allerlei Mutmaßungen über die langsame Gehirnarbeit dieses merkwürdigen Völkchens.
Aus der unteren Seite dieser etwa einen halben Meter dicken Scholle hingen Beine und untere Körperhälften toter Kaiserpinguinküken heraus, an einer Stelle auch Kadaver eines ausgewachsenen Pinguins. Diese traurigen Reste früheren friedlichen Lebens dort oben waren augenscheinlich auf der Oberfläche des Eisfeldes eingefroren und wurden jetzt von unten allmählich wieder herausgespült. So bot diese alte, schmutzige, eingeklemmte Scholle des abgetriebenen Buchteises einen förmlichen Abriss der Lebensgeschichte dieser seltsam primitiven Vögel.
Da eine Landung infolge der Dünung unmöglich war, ruderten wir eine Strecke an den Felsen entlang. Diese Crozierklippen sind sehr interessant. Sie bestehen hauptsächlich aus vulkanischem Tuff, schließen aber mächtige Schichten von säulenförmigem Basalt ein und zeigen prächtige Muster von eingeklemmten und gewundenen Säulen und von Höhlen mit ganzen und halben Pfeilern, die fast wie eine Miniaturnachbildung des Giant’s Causeway aussahen, des Riesendammes an der Nordostspitze von Irland mit seinen 40 000 Basaltsäulen.
Wenig fehlte und diese Kahnpartie hätte unserer ganzen Polwanderung ein vorschnelles Ende bereitet. Als wir unter einem der überhängenden Felsblöcke entlangruderten, meinten wir scherzend, wenn solch ein Block auf uns herunterfalle, würden wir den Spaß wohl nicht lange überleben. Doch war uns dabei etwas beklommen zumute, und wir waren froh, dass wir uns von hier wieder zum Schiff hinwenden konnten. Kaum waren wir etwa zwei-, dreihundert Meter von jener Stelle entfernt, als plötzlich ein donnerähnliches Krachen hinter uns ertönte und etwas mit laut klatschendem Schlag in die See stürzte, die hoch aufspritzte. Eine erstickende Wolke Gesteinsstaub hatte sich erhoben gleich dem Rauch bei einer Explosion, und als sie sich verzog, sahen wir, welch einem Unheil wir entgangen waren: Derselbe Block, über dessen bedrohliches Herabhängen wir gescherzt hatten, war abgestürzt und würde, wenn wir noch in seinem Bereich gewesen wären, uns alle vernichtet haben!
Überhaupt war diese Ruderfahrt mehr als aufregend. Ehe wir wieder an Bord gelangten, hatten wir noch das Vergnügen, es mit ansehen zu müssen, wie ein mächtiger Gürtel Packeis die »Terra Nova« so dicht an jene Klippen herandrängte, dass ihr nur die Wahl zu bleiben schien, entweder an den Felsen zu zerschellen oder sich dem Eis gefangen zu geben. Zu wenden oder die Maschine rückwärts zu stellen und mit dem Heck voran den Packeisgürtel zu durchbrechen, dazu war weder Zeit noch Raum, denn so schnell funktionierte leider die Maschine nicht. Als sich das Schiff schließlich doch noch durchzwängte, erhielt es schwere Stöße unter dem Heck und gegen das Steuer, denn die Schollen waren mächtig und die Dünung sehr stark.
Nachdem unser Walfischboot wieder glücklich an Bord gebracht war, fuhr die »Terra Nova« zum Pinguinbrutplatz. Die Hoffnung auf eine günstige Landungsstelle war so gut wie aufgegeben und belebte sich auch nicht wieder.
Die Pinguine waren vom Schiff aus deutlich zu erkennen. Auf dem großen Brutplatz bedeckten sie einen ungeheueren Flächenraum; sie hatten sich dort so weit ausgedehnt, wie sich nur irgend Schutz finden ließ. Ich beobachtete sogar zahlreiche Gruppen dieser Vögel auf den fern von den Brutplätzen hoch über der See emporragenden Schneehängen, was mich sehr wunderte. Was für ein gutes Leben müssen hier die Schwertwale haben, von denen sich mehrere dicht neben dem Schiff aus dem Wasser erhoben. Auf dem kleinen Brutplatz bildeten die Tiere vorläufig nur vereinzelte Flecke, und hier war noch reichlich Platz zur Ausdehnung der Kolonien. Solche unbenutzten Stellen hätten eine ideale Winterstation für uns abgegeben, und jede Einzelheit des Ufers sah vorteilhaft für eine Überwinterung aus. Jammerschade ist es, dass ich diesen, uns allen schon lieb gewordenen Plan, hier zu überwintern, widerwillig und betrübt aufgeben muss.
Mittwoch, 4. Januar, 1 Uhr nachts. Auf der Höhe des Kap Bird trafen wir auf Packeis, fuhren durch mehrere Eisströme und konnten dann einer offenen Wasserrinne dicht in der Nähe der eisgepanzerten Küstenlinie folgen. Kap Bird ist ein rundes Vorgebirge mit zahlreichen Landzungen, sodass es schwer zu sagen ist, welche von ihnen das eigentliche Kap ist. Westlich von ihm dehnt sich eine weite braunrötliche Landfläche aus mit zahlreichen grauen Flecken; es sind erratische Blöcke aus Granit. Mithilfe des Fernrohrs sahen wir einen dieser Blöcke auf einem Gipfel in mindestens 400 Metern Höhe über der See liegen.
Auch auf dieser Landfläche des Kap Bird befinden sich ein größerer und mehrere kleine Pinguinbrutplätze, und auch hier waren die Schwertwale zur Stelle. Wir beobachteten einen alten mit einer hohen Rückenflosse und verschiedene junge. Eine kleine Gesellschaft Pinguine schoss durch das Wasser ihren Feinden gerade entgegen; sie mussten bei ihren häufigen Luftsprüngen die dunkeldrohenden Flossen der Wale gesehen haben, nahmen aber nicht die geringste Notiz davon – ja sie huschten sogar über die Walfische hinüber, ohne dass ein Tumult im Wasser bemerkbar war, und schwammen dann auf der anderen Seite weiter. Wir konnten uns diese spielende Verträglichkeit der beiden Erzfeinde nur dadurch erklären, dass die Wale von ihrer letzten Mahlzeit noch übersättigt waren.
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