Dr. Norden Jubiläumsbox 5 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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Tief in Gedanken versunken ging Felicitas Norden an diesem Morgen über einen der langen Flure der Behnisch-Klinik, als sie aus den Augenwinkeln eine Gestalt wahrnahm, die ihr seltsam bekannt vorkam. Obwohl sie schon an ihr vorbei gegangen war, kehrte sie noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht geirrt hatte. Und sie erschrak, als sie tatsächlich ihre Freundin Charlotte Beer erkannte, die auf einer Bank im Flur saß und grübelte. Inzwischen hatte Fee von den Komplikationen, aber auch von der erfolgreich verlaufenen Operation erfahren. Warum war ihre Freundin dann nicht bei ihrem Mann?
»Charlotte, was machst du denn hier?«, fragte sie deshalb beunruhigt. »Gibt es schlechte Nachrichten?«
Froh über diese unverhoffte Begegnung lächelte Charlotte schmal.
»In gewisser Weise«, gestand sie leise.
»Das verstehe ich nicht. Nach der Operation hat Daniel noch bei mir vorbei geschaut und mir versichert, dass Bernhard auf einem guten Weg ist.«
»In medizinischer Hinsicht vielleicht«, murmelte Charlotte und presste die Lippen aufeinander.
»Aber?«, hakte Fee nach.
Doch auf diese Frage bekam sie keine Antwort mehr. An der Miene ihrer Freundin las Fee ab, dass Not am Mann war. Deshalb dachte sie schnell nach und traf gleich darauf eine Entscheidung.
»Weißt du was? Ich bringe schnell die Unterlagen weg und dann hab ich eh Pause. Wir machen es uns in meinem Büro gemütlich, und du erzählst mir, was passiert ist. Ja?«
Charlotte brachte es nicht über sich, diesen Vorschlag abzulehnen. Mal abgesehen davon, dass sie ahnte, wie gut ihr ein offenes Gespräch mit ihrer Freundin tun würde. Sie nickte ergeben, und nur ein paar Minuten später war Felicitas zurück. Gleich darauf saßen die beiden Freundinnen wie vereinbart in dem Zimmer, das Fee mit persönlichen Gegenständen in ein gemütliches Reich verwandelt hatte, in dem sich Patienten und Kollegen gleichermaßen wohl fühlten. Nachdem die Ärztin ihrer Freundin Tee und Gebäck serviert hatte, saß sie ihr mit fragendem Blick gegenüber.
Charlotte verstand die stumme Aufforderung.
»Bernhard hat sich hinter meinem Rücken Geld von seinem Bruder erbettelt«, berichtete sie endlich stockend von der erschütternden Wahrheit, die sie von ihrer Tochter erfahren hatte. Noch immer schmeckte die Enttäuschung über diesen Verrat bitter wie Galle. »Er wollte nicht, dass ich erfahre, wie schlecht es wirklich um das Geschäft steht.«
Fee, die Bernhard genauso lange kannte wie Charlotte, zog ihre eigenen Schlüsse aus seinem Handeln.
»Das ist ihm sicher nicht leicht gefallen«, erwiderte sie spontan.
Im ersten Moment wunderte sich Charlotte über diese Antwort. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf.
»Mag sein. Aber unser ganzes Leben lang waren wir aufrichtig zueinander. In guten wie in schlechten Zeiten«, brachen sich ihre Gefühle endlich Bahn. »In guten wie in schlechten Zeiten. Zumindest war es das, was ich dachte. Aber wie soll ich denn jetzt wissen, was davon wahr war und was nicht?«, fragte sie so bitter, dass Felicitas erschrak.
»Du liebe Zeit, Charly, das klingt ja gerade so, als ob du eure ganze Ehe in Frage stellst. All die Jahre, in denen ihr doch so glücklich ward.«
»Aber warum? Warum hat er mir etwas vorgemacht?« Wieder war Charlotte den Tränen nahe.
Einerseits konnte Felicitas die Reaktion ihrer Freundin verstehen. Auf der anderen Seite konnte sie sich aber auch in Bernhard hinein versetzen.
»Weißt du, Charly«, begann sie mit weicher Stimme und schenkte sich und ihrer Freundin Tee nach. »Es gibt Situationen, da scheint selbst für den ehrlichsten Menschen der Welt eine Lüge der einzige Ausweg zu sein, um diejenigen, die er liebt, nicht zu verletzen.« Sie stellte die Kanne zurück auf den Tisch und gab ein paar Stücke Kandiszucker in den Tee. Fee liebte das Knistern und Knacken, ehe er zerfiel und im heißen Tee schmolz. »Dein Mann wusste doch ganz genau, was dir das Reisebüro bedeutet.«
Der Gedanke an ihr heißgeliebtes Geschäft ließ Charlotte lächeln.
»Fast so viel, wir mir Bernhard bedeutet«, gestand sie leise und schämte sich fast dafür.
Mit dieser Antwort hatte Felicitas gerechnet.
»Siehst du. Bernhard wusste genau, dass dich eine Pleite in ein tiefes Loch gestürzt hätte. Deshalb hat er alles dafür getan, dass genau das nicht passiert.«
Diese Argumentation war schlüssig. Trotzdem zögerte Charlotte, sich auf die Worte ihrer Freundin einzulassen.
»Aber ihm musste doch klar sein, dass das Theater irgendwann auffliegt«, hielt sie dagegen. »Wie lange hätten wir denn noch auf Pump leben können?« Diese Vorstellung jagte ihr einen Angstschauer über den Rücken.
»Wenn man wirklich liebt, ist die Logik manchmal außer Kraft gesetzt«, erwiderte Felicitas so spontan und gleichzeitig innig, dass sie sich selbst darüber wunderte. Dabei war ihr klar, dass sie Ähnliches auf sich genommen hätte, wenn es darum ginge, Daniels Lebensglück zu retten.
Überrascht und tief bewegt sah Charlotte ihre Freundin an. Auf einmal rutschte sie auf der Sofakante nach vorn und streckte ihr beide Hände hin. Fee legte die ihren hinein, und Charlotte drückte sie fest.
»Danke!«, sagte sie und sah ihr tief in die Augen. Mehr nicht. Doch etwas anderes war auch nicht nötig, um die Dankbarkeit auszudrücken, die sie in diesem Augenblick empfand.
*
Nicht nur in der Klinik gab es an diesem Montagvormittag alle Hände voll zu tun. Auch in der Praxis Dr. Norden herrschte wie immer reges Treiben und Danny hatte alle Hände voll zu tun, um auch die Patienten seines Vaters zufrieden zu stellen. Glücklicherweise befand sich Dr. Norden Senior nach der erfolgreich verlaufenen Operation inzwischen auf dem Weg in die Praxis, sodass sich Danny seinem nächsten Patienten mit aller Ruhe widmen konnte.
»Bei meinem Bekannten war es aber genauso. Der war quietschfidel bis zu dem Tag, an dem er einfach umgefallen ist. Und dann hatte er einen Schlaganfall.« Der fünfundsiebzigjährige Patient, der auf Danny Nordens Behandlungsliege lag, musterte den jungen Arzt skeptisch. Nikolaus Petersen war wegen einer Magenverstimmung in die Praxis gekommen und kurz darauf ohnmächtig zusammengebrochen. Als er wenige Minuten später wieder aufgewacht war, hatte er sich auf der Behandlungsliege wieder gefunden. Nach einer gründlichen Untersuchung diskutierte er bereits seit einer Viertelstunde mit Danny Norden.
Der hatte seinem Patienten in der Zwischenzeit eine Schaumstoffrolle unter die Unterschenkel gelegt und ihm eine kreislaufstärkende Injektion verabreicht. Herrn Petersens Zustand war stabil, und allmählich war Danny am Ende seiner Geduld angelangt. Es kostete ihn alle Mühe, nicht unfreundlich zu werden.
»Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, Herr Petersen«, startete er einen letzten Versuch, seinen Patienten zur Einsicht zu bewegen. »Aber ich gehe mal schwer davon aus, dass es Ihrem Bekannten so schlecht ging, dass er nicht mit seinem Arzt über die richtige Diagnose diskutiert hat«, sagte er ihm auf den Kopf zu. »Liege ich da richtig?«
Nikolaus Peterson antwortete nicht sofort.
»Hm, nein, das hat er nicht«, brummelte er schließlich missmutig. »Aber nur deshalb nicht,