Warum Gott?. Timothy Keller
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Wie kam es, dass ein solch „enger“, Ausschließlichkeit beanspruchender Glaube zu einem Verhalten führte, das so offen gegenüber anderen Menschen war? Die Christen hatten in ihrem Glauben den stärkstmöglichen Anreiz zu einem Leben des aufopferungsvollen Dienstes und Friedenstiftens: Im Herzen ihrer Weltanschauung stand ein Mann, der für seine Feinde gestorben war und um Vergebung für sie gebeten hatte. Wer darüber nachdachte, konnte gar nicht anders, als den Andersgläubigen, ja als seinen Widersachern auf eine völlig neue Art zu begegnen, die Gewalt und Unterdrückung ausschloss.
Wir können die Tatsache, dass die Kirche im Namen Christi auch Unrecht getan hat, nicht stillschweigend übergehen, aber wer will leugnen, dass die grundlegenden christlichen Glaubensüberzeugungen ein mächtiges Werkzeug für den Frieden in unserer zerrissenen Welt sein können?
KAPITEL 2 „Wie kann ein guter Gott Leiden zulassen?“
„Ich glaube nicht, dass der Gott der Christen existiert“, sagte Hillary, eine Englischstudentin, „wenn er all dieses schreckliche Leiden in der Welt zulässt. Entweder er ist allmächtig, aber nicht gut genug, um dem Bösen und dem Leiden zu wehren, oder er ist gut, aber nicht mächtig genug, um mit dem Bösen und dem Leiden Schluss zu machen. In beiden Fällen kann es den guten und gleichzeitig allmächtigen Gott der Bibel nicht geben.“ 44
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as ist für mich keine philosophische Frage“, fügte Rob, Hillarys Freund, hinzu, „sondern eine persönliche. Ich weigere mich, an einen Gott zu glauben, der Leiden zulässt, selbst wenn er – oder sie oder es – existieren sollte. Vielleicht existiert Gott, vielleicht nicht, aber wenn ja, dann kann man ihm nicht vertrauen.“
Für viele Menschen ist nicht der Ausschließlichkeitsanspruch des Christentums das größte Problem, sondern die Existenz des Bösen und des Leidens in der Welt. Die einen sehen in unverdientem Leiden ein philosophisches Problem, das die Existenz Gottes infrage stellt. Für andere ist es ein mehr persönliches Problem. Sie interessieren sich nicht für die abstrakte Frage, ob Gott existiert oder nicht, sie weigern sich, an einen Gott zu glauben, der eine solche Menschheitsgeschichte wie die unsere zulässt.
In den Wochen nach dem verheerenden Tsunami, der im Dezember 2004 um den Indischen Ozean herum über 250.000 Menschen das Leben kostete, waren die Zeitungen voll von Leserbriefen und Artikeln, die fragten: „Wo war hier Gott?“ Ein Reporter schrieb: „Wenn Gott Gott ist, dann ist er nicht gut, und wenn er gut ist, dann ist er nicht Gott. Beides haben kann man nicht, und nach diesem Tsunami schon dreimal nicht.“45 Doch trotz der selbstsicheren Behauptung des Reporters gilt der Versuch, zu zeigen, dass die Existenz des Bösen gegen die Existenz Gottes spricht, „heute in (fast) allen [philosophischen] Lagern als total fehlgeschlagen.“46 Warum das?
„Wenn Gott Gott ist, dann ist er nicht gut, und wenn er gut ist, dann ist er nicht Gott.“
Die Existenz von Bösem und Leiden
spricht nicht gegen Gott
Der Philosoph J. L. Mackie argumentiert in seinem Buch Das Wunder des Theismus47 folgendermaßen: Wenn es einen Gott gäbe, der gut und allmächtig ist, würde er sinnloses Böses nicht zulassen, aber da es nun einmal viel sinnloses, nicht zu rechtfertigendes Böses in der Welt gibt, kann es den traditionellen Gott, der gut und allmächtig ist, nicht geben. Es mag vielleicht einen anderen Gott geben oder gar keinen, aber nicht den traditionellen Gott.48 Viele Fachkollegen von Mackie haben einen gravierenden Denkfehler in dieser These entdeckt. In ihr steckt nämlich unausgesprochen eine ganz bestimmte Prämisse: dass etwas Böses, das mir sinnlos vorkommt, auch tatsächlich sinnlos ist.
Damit aber steht das ganze Argument auf wackligen Füßen, denn die Tatsache, dass ich keinen guten Grund dafür sehen (oder mir vorstellen) kann, warum Gott etwas zulässt, bedeutet natürlich noch lange nicht, dass es einen solchen Grund nicht gibt. Einmal mehr sehen wir, wie in dem scheinbar so rein intellektuellen Skeptizismus ein tiefer Glaube steckt – hier der Glaube an unser eigenes Erkenntnisvermögen: Wenn wir keine zufriedenstellenden Antworten auf das Problem des Leidens finden können, dann kann es keine geben. Dies ist blinder Glaube der Sonderklasse.
Alvin Plantinga hat den Trugschluss, der in dem Argument mit der Sinnlosigkeit des Leidens steckt, mit einem sehr schönen Bild illustriert: Wenn Sie in Ihr Campingzelt hineinschauen, um zu sehen, ob sich darin vielleicht ein Bernhardiner befindet, Sie aber keinen sehen, ist sehr wahrscheinlich auch keiner drin. Aber wenn Sie das Zelt nach einer Gnitze durchsuchen (einer extrem kleinen und extrem bissigen Insektenart) und keine sehen, heißt das noch lange nicht, dass keine im Zelt ist. Viele Menschen scheinen davon auszugehen, dass, wenn es gute Gründe für die Existenz des Bösen gibt, diese auch unserem Verstand zugänglich sein müssten – also eher wie ein Bernhardiner, und nicht wie eine Gnitze –, aber muss das wirklich so sein?49
Die Existenz des Bösen als Argument gegen Gott scheitert nicht nur an der Logik, sondern auch an der Erfahrung. Als Pastor habe ich schon oft über die Josefsgeschichte (1. Mose 37-50) gepredigt. Josef war ein arroganter junger Mann, den seine Brüder hassten. In ihrer Wut warfen sie ihn schließlich in eine Grube und verkauften ihn in die Sklaverei. Bestimmt hat Josef Gott angefleht, ihm zu helfen, seinen Brüdern zu entkommen, aber keine Hilfe kam, und Josef wurde als Sklave nach Ägypten verschleppt, wo in harten Prüfungen sein Charakter geläutert und stark wurde. Er wurde schließlich Premierminister von Ägypten, der Tausende Menschen, einschließlich seiner eigenen Verwandten, vor dem Hungertod rettete. Hätte Gott nicht die Leidensjahre in Josefs Leben zugelassen, Josef wäre niemals in diesem Maße ein Anwalt der sozialen Gerechtigkeit und der Versöhnung geworden.
Wenn ich über diese Geschichte predige, melden sich anschließend immer etliche Menschen, die sich in ihr wiederfinden. Viele geben zu, dass vieles, was sie in ihrem Leben wirklich weitergebracht hat, ihnen gerade durch schwierige und schmerzliche Erfahrungen zuteil geworden ist. Manche erkennen zum Beispiel im Rückblick, dass ihre Krankheit eine unersetzliche Zeit des inneren Wachstums und der persönlichen Reife war. Ich selber habe eine Krebserkrankung hinter mir und meine Frau leidet seit Jahren an Morbus Crohn, und wir beide können diese Wahrheit nur bestätigen.
In meiner ersten Gemeinde war ein Mann, der einen Großteil seines Augenlichtes verloren hatte, als er bei einem Drogendeal eine Kugel ins Gesicht bekam. Er erzählte mir, dass er früher ein brutaler Egoist gewesen war, der seine Probleme mit anderen Menschen und mit der Polizei immer den anderen in die Schuhe schob. Der Verlust des Augenlichts war ein schwerer Schlag für ihn – und ein Augenöffner. „Als meine physischen Augen sich schlossen, öffneten meine inneren sich, und ich sah endlich, wie ich die Menschen behandelt hatte. Ich fing an, mich zu ändern, und heute habe ich zum ersten Mal im Leben Freunde – echte Freunde. Ich habe einen hohen Preis gezahlt, aber er war es wert. Jetzt hat mein Leben endlich einen Sinn.“
Warum sollte es nicht möglich sein, dass es aus der unendlich höheren Perspektive Gottes für alles Böse gute Gründe geben könnte?
Nein, diese Menschen sind nicht dankbar dafür, dass sie ihre Freiheit, Gesundheit oder was auch immer verloren haben, aber sie würden die innere Reife, Kraft und Charakterstärke, die sie dadurch gewonnen haben, gegen nichts in der Welt tauschen. Wohl die meisten von uns können aus dem Rückblick zumindest für einen Teil der Tragödien und Leiden, die ihnen im Leben widerfahren sind,