Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский

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Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich stand noch lange auf demselben Fleck und folgte ihm mit den Augen. Dieser Augenblick vernichtete mein ganzes Glück und zerstörte mein Leben. Das fühlte ich mit Schmerz… Langsam wanderte ich denselben Weg zurück zu den alten Eltern. Ich wußte nicht, was ich ihnen sagen, wie ich zu ihnen hereintreten sollte. Meine Denkkraft war erstorben; die Beine wankten mir…

      Das ist die ganze Geschichte meines Glückes; so endete und schloß meine Liebe. Jetzt werde ich in der unterbrochenen Erzählung fortfahren.

      Zehntes Kapitel

      Fünf Tage nach Smith’ Tod siedelte ich in seine Wohnung über. Diesen ganzen Tag lang war mir sehr traurig zumute. Das Wetter war trüb und kalt: es fiel ein feuchter, mit Regen gemischter Schnee. Erst gegen Abend brach die Sonne auf einen Augenblick durch, und ein verirrter Strahl blickte, wahrscheinlich aus Neugier, in mein Zimmer. Ich fing schon an zu bereuen, daß ich hierhergezogen war. Das Zimmer war zwar groß, aber sehr niedrig, verräuchert und dumpfig und machte trotz der darinstehenden paar Möbelstücke einen unangenehm leeren Eindruck. Es kam mir gleich damals der Gedanke, daß ich mir in diesem Zimmer unfehlbar den Rest meiner Gesundheit verderben würde. Und das ist denn auch geschehen.

      Diesen ganzen Vormittag war ich mit meinen Papieren beschäftigt, die ich sichtete und ordnete. In Ermangelung einer Mappe hatte ich sie in einem Kopfkissenbezug transportiert, und dabei waren sie arg zerknittert und durcheinandergeraten. Dann setzte ich mich hin, um zu schreiben. Ich schrieb damals immer noch an meinem großen Roman; aber ich hörte bald wieder auf; mein Kopf war mit anderen Gedanken erfüllt …

      Ich warf die Feder hin und setzte mich ans Fenster. Die Dunkelheit brach herein, und meine Stimmung wurde immer trauriger und trauriger. Mancherlei bedrückende Gedanken bemächtigten sich meiner. Ich hatte die Empfindung, daß ich in Petersburg schließlich völlig zugrunde gehen würde. Der Frühling nahte; ich dachte: ›Könnte ich mich nur aus dieser beklemmenden Enge in die freie Natur flüchten und den Geruch der frischen Felder und Wälder einatmen, die ich so lange nicht gesehen habe; dann würde ich wieder aufleben! …‹

      Es kam mir auch der Gedanke: ›Wie gut wäre es, wenn ich durch irgendwelche Zauberei oder durch ein Wunder alles in den letzten Jahren Geschehene und Erlebte vollständig vergäße, einen frischen Geist bekäme und wieder mit neuer Kraft anfinge!‹ Damals hing ich noch solchen Zukunftsträumereien nach und hoffte auf eine Art von Wiedergeburt. ›Meinetwegen will ich sogar ins Irrenhaus kommen‹, sagte ich mir, ›damit man mir da auf irgendwelche Weise das ganze Gehirn umkehrt und neu einrichtet und ich dann wieder ganz gesund werde!‹ Es steckte noch ein starker Lebensdurst in mir, und ich glaubte noch an das Leben! … Aber ich erinnere mich, daß ich damals in ein Gelächter ausbrach. ›Was sollte ich denn nach dem Aufenthalt im Irrenhaus tun?‹ fragte ich mich. ›Etwa wieder Romane schreiben?‹

      So überließ ich mich meinen Träumereien und meinem Trübsinn; aber unterdessen rückte die Zeit weiter, und die Nacht kam heran. Für diesen Abend hatte ich Natascha zugesagt, zu ihr zu kommen; sie hatte mich schon tags zuvor durch ein Billett dringend dazu aufgefordert. Ich sprang auf und begann, mich zurechtzumachen. Auch ohnedies war es mir ein Bedürfnis, möglichst schnell aus der Wohnung hinauszukommen, irgendwohin, meinetwegen in den Regen und in den Schmutz. Je stärker die Finsternis wurde, um so geräumiger schien mein Zimmer zu werden, um so mehr schien es sich auszudehnen. Ich hatte die Vorstellung, ich würde in jeder Nacht in jeder Ecke den alten Smith sehen: er werde dasitzen und mich regungslos anblicken, so wie er in der Konditorei Adam Iwanowitsch angeblickt hatte, und Asorka werde zu seinen Füßen liegen. Und gerade in diesem Augenblick hatte ich ein Erlebnis, das mir einen starken Eindruck machte.

      Aber ich muß alles offen bekennen: ob nun infolge meiner Nervenzerrüttung oder infolge der Eindrücke in der neuen Wohnung oder infolge der neuerdings über mich gekommenen Melancholie, kurz, ich war gleich von dem Einbruch der Dämmerung an allmählich und stufenweise in denjenigen Seelenzustand hineingeraten, der jetzt während meiner Krankheit nachts bei mir so häufig vorkommt und den ich ›mystische Angst‹ nenne. Es ist dies eine überaus peinliche, qualvolle Furcht vor etwas, was ich selbst nicht zu definieren vermag, vor etwas Unbegreiflichem, das in der natürlichen Ordnung der Dinge nicht existiert, das aber unfehlbar, vielleicht gleich im nächsten Augenblick, sich verwirklichen, allen Vernunftgründen zum Trotz zu mir kommen und als unwiderlegliche, schreckliche, grauenhafte, unerbittliche Tatsache vor mich hintreten wird. Diese Furcht wächst gewöhnlich immer stärker und stärker heran, ohne sich an irgendwelche Gründe des Verstandes zu kehren, so daß schließlich der Verstand, obwohl er in diesen Augenblicken vielleicht noch größere Klarheit besitzt als sonst, schlechterdings keine Möglichkeit hat, den Empfindungen entgegenzuwirken. Er findet kein Gehör, er ist nutzlos, und durch diese Zwiespältigkeit wird die ängstliche Pein der Erwartung noch vermehrt. Ich glaube, von dieser Art ist die schreckliche Empfindung der Leute, die sich vor Leichen fürchten. Aber bei mir wird die Qual noch durch die Undefinierbarkeit der Gefahr gesteigert. Ich stand mit dem Rücken nach der Tür und nahm gerade meinen Hut vom Tisch; in diesem Augenblick kam mir plötzlich der Gedanke, wenn ich mich umsähe, würde ich bestimmt den alten Smith erblicken; zunächst werde er sachte die Tür öffnen, auf der Schwelle stehenbleiben und im Zimmer umherschauen; dann werde er leise mit gesenktem Kopf eintreten, sich vor mich hinstellen, mich mit seinen trüben Augen anstarren und mir auf einmal mit seinem zahnlosen Mund gerade ins Gesicht lachen, lange und unhörbar, und sein ganzer Körper werde von diesem Lachen erschüttert werden und lange hin und her schwanken. Diese ganze Vision stand mir auf einmal mit größter Klarheit und Deutlichkeit vor dem geistigen Auge, und gleichzeitig bildete sich bei mir die volle unerschütterliche Überzeugung heraus, daß das alles unfehlbar und unabwendbar geschehen werde, ja, daß es bereits geschehe und ich es nur nicht sähe, weil ich mit dem Rücken nach der Tür stände, und daß sich gerade in diesem Augenblick die Tür vielleicht schon öffne. Schnell drehte ich mich um, und was sah ich? Die Tür öffnete sich wirklich, sachte und unhörbar, ebenso wie ich mir das gerade vorgestellt hatte. Ich schrie auf. Lange Zeit erschien niemand, als ob die Tür sich von selbst geöffnet hätte; auf einmal zeigte sich auf der Schwelle ein seltsames Wesen: seine Augen blickten mich, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte, starr und unverwandt an. Ein kalter Schauer lief durch alle meine Glieder. Zu meinem größten Schrecken sah ich, daß es ein Kind, ein Mädchen war, und wenn es sogar der alte Smith selbst gewesen wäre, so wäre ich über ihn vielleicht nicht so erschrocken, wie über die seltsame, unerwartete Erscheinung dieses Kindes in meinem Zimmer zu einer solchen Tageszeit.

      Ich habe bereits gesagt, daß die Kleine die Tür so unhörbar und langsam öffnete, als ob sie sich fürchtete hereinzukommen. Als sie in der Tür erschien, blieb sie auf der Schwelle stehen und sah mich lange mit einem an Erstarrung grenzenden Erstaunen an; endlich tat sie sachte und langsam zwei Schritte vorwärts und blieb vor mir stehen, immer noch ohne ein Wort zu sprechen. Ich musterte sie nun aus größerer Nähe. Es war ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren, von kleiner Statur, mager und blaß, als ob sie eben erst eine schwere Krankheit durchgemacht hätte. Um so heller funkelten ihre großen schwarzen Augen. Mit der linken Hand hielt sie über der Brust ein altes, zerrissenes Tuch zusammen, das sie um ihren noch von der Abendkälte zitternden Oberkörper geschlagen hatte. Ihren Anzug konnte man geradezu als Lumpen bezeichnen; das dichte, schwarze Haar war ungekämmt und zerzaust. So standen wir ein paar Minuten lang da und blickten einander unverwandt an.

      »Wo ist der Großvater?« fragte sie endlich mit kaum hörbarer, heiserer Stimme, wie wenn ihr die Brust oder die Kehle weh täte.

      Meine ganze mystische Angst verflog bei dieser Frage. Da fragte jemand nach Smith; also hatte ich unerwartet eine Spur von ihm gefunden.

      »Dein Großvater? Aber der ist ja schon gestorben!« erwiderte ich, da ich in keiner Weise darauf vorbereitet war, auf eine solche Frage zu antworten, bereute aber meine Antwort sofort. Eine Weile blieb sie noch in der früheren Haltung stehen; dann aber fing sie auf einmal an am ganzen Leib zu zittern, und zwar so stark, als ob ein gefährlicher nervöser Anfall im Anzug sei. Ich wollte sie schon anfassen und halten, damit sie nicht hinfiele;

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