Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский страница 17
»Ja«; flüsterte sie mühsam und sah mich ängstlich an.
»Hieß er Smith? Ja?«
»J-ja!«
»Der ist … nun ja, der ist allerdings gestorben … Aber gräme dich nicht zu sehr, liebes Kind! Warum bist du denn nicht schon früher einmal hergekommen? Von wo kommst du jetzt? Er ist gestern begraben worden; er war ganz plötzlich und unerwartet gestorben… Also du bist seine Enkelin?«
Das Mädchen antwortete auf meine hastigen, ungeordneten Fragen nicht. Schweigend wandte sie sich ab und ging sachte aus dem Zimmer. Ich war so überrascht, daß ich sie nicht zurückhielt und sie nicht weiter fragte. Auf der Schwelle blieb sie noch einmal stehen, wandte sich halb mir zu und fragte:
»Ist Asorka auch gestorben?«
»Ja, Asorka ist auch gestorben«, antwortete ich. Die Frage erschien mir sonderbar; sie klang, als ob die Kleine davon überzeugt wäre, daß Asorka jedenfalls mit dem alten Mann zugleich gestorben sein müsse.
Als das Mädchen meine Antwort vernommen hatte, verließ sie unhörbar das Zimmer und schloß behutsam hinter sich die Tür.
Einen Augenblick darauf lief ich ihr nach; ich ärgerte mich sehr darüber, daß ich sie hatte fortgehen lassen. Sie war so leise hinausgegangen, daß ich nicht hatte hören können, wie sie die nach der Treppe führende Flurtür öffnete. ›Die Treppe kann sie noch nicht hinunter sein‹, dachte ich und blieb stehen, um zu horchen. Aber alles war still, und es waren keine Schritte zu hören. Es klappte nur irgendwo in einem tieferen Stockwerk eine Tür; dann wurde wieder alles still.
Eilig begann ich die Treppe hinunterzusteigen. Die Treppe von meiner Wohnung im fünften Stock nach dem vierten Stock war eine Wendeltreppe; vom vierten Stock an begann eine gerade Treppe. Es war eine jener unsauberen, immer dunklen Treppen, wie man sie gewöhnlich in Mietskasernen mit kleinen Wohnungen findet. In diesem Augenblick war es auf ihr schon völlig dunkel. Tastend stieg ich nach dem vierten Stock hinunter; hier blieb ich stehen und hatte auf einmal ein Gefühl, als ob ich angestoßen und darauf aufmerksam gemacht würde, daß hier jemand auf dem Flur war und sich vor mir versteckte. Ich begann mit den Händen umherzutasten; ganz in einer Ecke stand das Mädchen mit dem Gesicht zur Wand und weinte still und lautlos. »Höre, mein Kind, warum fürchtest du dich?« sagte ich. »Ich habe dich so erschreckt; es tut mir leid. Dein Großvater hat, als er starb, noch von dir gesprochen; das waren seine letzten Worte… Ich habe auch noch Bücher von ihm; wahrscheinlich gehören sie dir. Wie heißt du denn? Wo wohnst du? Er sagte, in der Sechsten Linie…«
Aber ich konnte nicht zu Ende sprechen. Sie schrie erschrocken auf, anscheinend darüber, daß ich wußte, wo sie wohnte, stieß mich mit ihren dünnen, mageren Armen zurück und lief die Treppe hinunter. Ich eilte ihr nach; ich konnte noch ihre Schritte unten hören. Auf einmal hörten sie auf… Als ich auf die Straße hinausstürzte, war das Mädchen nicht da. Ich lief bis zum Wosnessenskiprospekt und sah, daß all mein Suchen vergeblich war: sie war verschwunden. »Wahrscheinlich hat sie sich schon beim Hinuntersteigen von der Treppe irgendwo vor mir versteckt«, dachte ich.
Elftes Kapitel
Aber kaum hatte ich das nasse, schmutzige Trottoir des Prospektes betreten, als ich mit einem Passanten zusammenstieß, der, anscheinend in tiefen Gedanken, mit gesenktem Kopf eilig dahinging. Zu meinem größten Erstaunen erkannte ich den alten Ichmenew. Dies war für mich ein Abend der unerwarteten Begegnungen. Ich wußte, daß der alte Mann vor drei Tagen ernstlich erkrankt war, und nun traf ich ihn plötzlich bei solchem feuchten Wetter auf der Straße. Zudem war er auch früher abends nie ausgegangen, und seit Natascha das Haus verlassen hatte, das heißt seit beinah einem halben Jahr, war er ein richtiger Stubenhocker geworden. Er freute sich außerordentlich über das Zusammentreffen mit mir, wie jemand, der endlich einen Freund gefunden hat, mit dem er sich aussprechen kann, ergriff meine Hand, drückte sie kräftig und zog mich, ohne zu fragen, wohin ich ginge, mit sich fort. Er war über etwas in Aufregung, hastete und redete abgebrochen. »Wo mag er nur gewesen sein?« dachte ich bei mir. Ihn danach zu fragen wäre unnütz gewesen; er war furchtbar mißtrauisch geworden und witterte manchmal in der harmlosesten Frage oder Bemerkung eine Kränkung, eine beleidigende Anspielung.
Ich blickte ihn von der Seite an: sein Gesicht sah krankhaft aus; er war in der letzten Zeit sehr abgemagert; rasiert hatte er sich seit einer Woche nicht. Sein ganz ergrautes Haar hing unordentlich unter dem verbeulten Hut hervor und lag in langen Strähnen auf dem Kragen seines alten, abgetragenen Mantels. Ich hatte schon früher bemerkt, daß er manchmal wie geistesabwesend war; er vergaß zum Beispiel, daß er nicht allein im Zimmer war, redete mit sich selbst und gestikulierte mit den Händen. Es war peinlich, ihn anzusehen.
»Nun, wie geht’s, Wanja, wie geht’s?« sagte er. »Wo kommst du her? Ich bin ausgewesen, lieber Freund, in Geschäften. Bist du gesund?«
»Sind Sie selbst gesund?« antwortete ich. »Sie waren ja noch vor kurzem krank, und da gehen Sie aus?«
Der Alte antwortete nicht, als hätte er mich gar nicht verstanden.
»Wie befindet sich Anna Andrejewna?«
»Sie ist gesund, sie ist gesund… Übrigens, ein bißchen kränklich ist sie auch. Sie ist so trübsinnig geworden… sie hat auch von dir gesprochen, warum du gar nicht zu uns kämest. Aber du warst wohl jetzt gerade auf dem Weg zu uns, Wanja? Oder nicht? Ich habe dich vielleicht gestört und halte dich von etwas ab?« fragte er plötzlich, mich mißtrauisch und argwöhnisch anblickend.
Der alte Mann war dermaßen empfindlich und reizbar geworden, daß, wenn ich ihm jetzt geantwortet hätte, ich sei nicht auf dem Weg zu ihnen, er sich unfehlbar beleidigt gefühlt und sich kalt von mir getrennt hätte. Ich beeilte mich, bejahend zu antworten, daß ich gerade vorhätte, Anna Andrejewna zu besuchen, obwohl ich wußte, daß ich dann bei Natascha zu spät kommen und sie vielleicht überhaupt nicht mehr antreffen würde.
»Nun, das ist ja schön«, erwiderte der Alte, durch meine Antwort beruhigt. »Das ist ja schön…«
Auf einmal verstummte er und versank in Gedanken, als ob er noch etwas unausgesprochen gelassen hätte.
»Ja, das ist schön!« wiederholte er mechanisch nach etwa fünf Minuten, wie wenn er nach seiner tiefen Versunkenheit wieder zu sich käme. »Hm!… Siehst du, Wanja, wir haben dich immer wie einen eigenen Sohn gehalten; Gott hat mich und Anna Andrejewna nicht mit einem Sohn gesegnet… da hat er uns dich gesandt, ich habe es immer so aufgefaßt. Und meine Frau auch… ja! Und du hast dich gegen uns immer respektvoll und zärtlich benommen wie ein leiblicher, dankbarer Sohn. Möge dich Gott dafür segnen, Wanja, so wie wir beiden alten Leute dich segnen und lieben… ja!«
Seine Stimme fing an zu zittern, er machte eine kleine Pause.
»Ja… nun aber, wie geht es dir? Du bist doch nicht krank gewesen? Weil du so lange nicht bei uns warst.«
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte von Smith, sagte zu meiner Entschuldigung, diese Angelegenheit habe mich am Kommen gehindert; außerdem sei ich wirklich beinah krank gewesen und hätte wegen all dieser Abhaltungen den weiten Weg nach der Wassili-Insel (da wohnten sie damals) nicht machen können. Ich hätte mich beinah versprochen und gesagt, daß ich trotzdem auch in dieser Zeit die Möglichkeit gefunden hatte, Natascha zu besuchen; aber ich unterdrückte dies noch rechtzeitig.
Die Geschichte von Smith interessierte den alten Mann sehr. Er wurde aufmerksamer. Als er hörte, daß meine neue