Gesammelte Werke. Джек Лондон
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Sie warf einen Blick nach dem Spiegel, wo seine Fotografie steckte, schauderte und schnitt eine kleine Grimasse vor Abscheu und Ekel. Grausamkeit lag in den Augen und Brutalität. Er war eine Bestie. Ein ganzes Jahr lang tyrannisierte er sie jetzt. Er verscheuchte die anderen. Es war gleichsam eine Art Sklaverei, wie er ihr aufpasste. Sie musste an den jungen Buchhalter in der Wäscherei denken – der war kein Arbeiter, nein, sondern ein feiner Herr mit weichen Händen und weicher Stimme – ihn hatte Charley an der Straßenecke überfallen, nur, weil er gewagt hatte, sie zum Theater einzuladen. Und sie hatte nichts tun können. Um seinetwillen hatte sie nie ja zu sagen gewagt, wenn er sie eingeladen hatte.
Und nun sollte sie Mittwoch abend mit Billy ausgehen. Das Herz hüpfte ihr. Es gab wohl Krach, aber Billy würde sie von ihm befreien. Er sollte nur versuchen, Billy zu überfallen.
Mit einer schnellen Bewegung warf sie die Fotografie herunter und ließ sie mit der Bildseite auf die Kommode fallen. Dort lag sie jetzt neben einem kleinen viereckigen Etui aus dunklem Leder, das vom Zahn der Zeit ziemlich mitgenommen war. Mit dem Gefühl, dass es eine Profanation war, ergriff sie wieder die unselige Fotografie und warf sie in eine Ecke des Zimmers. Hierauf nahm sie das Lederetui, drückte auf eine Feder, dass es aufsprang, und betrachtete die Daguerreotypie einer kleinen abgearbeiteten Frau mit festen grauen Augen und mit einem Mund mit zuversichtlichem, rührenden Ausdruck. Auf dem Samt des Etuis stand mit Goldbuchstaben: Carlton von Daisy. Sie las es andächtig, denn es war der Name ihres Vaters, den sie nie gekannt hatte, und das Bild stellte die Mutter dar, die sie nur so wenig gekannt, wenn sie auch nie vergessen hatte, dass diese klugen traurigen Augen grau gewesen waren.
Obwohl Saxon keine Religion im üblichen Sinne hatte, war sie doch von Natur aus tief religiös. Ihre Gedanken von Gott waren vage und verschwommen und wirkten fast verwirrend. Sie konnte Gott nicht vor sich sehen. Hier auf der Daguerreotypie war das Konkrete. In die Kirche ging sie nicht. Dies war ihr Hochaltar, ihr Heiligtum. Hierzu nahm sie ihre Zuflucht in Not und in Verlassenheit. Hier suchte sie Rat, gute Eingebungen und Stütze. Sie hatte das Gefühl, dass sie anders war als die jungen Mädchen ihrer Bekanntschaft, und in dem abgebildeten Antlitz versuchte sie die Eigentümlichkeit ihres eigenen Wesens zu finden. Ihre Mutter war auch anders gewesen als andere Frauen. Diesem Bild gegenüber bemühte sie sich, wahr zu sein, anderen kein Unrecht zu tun oder Ärger zu bereiten. Und was sie in Wirklichkeit von ihrer Mutter wusste, und wie viel sie raten und vermuten musste, machte sie sich nicht klar. Denn seit vielen Jahren formte sie an ihrer Muttermythe.
Aber – war es nur eine Mythe? In plötzlichem Zorn über ihren eigenen Zweifel zog sie die unterste Kommodenlade heraus und entnahm ihr eine alte abgegriffene Mappe. Vergilbte Manuskripte fielen heraus und verbreiteten einen schwachen, süßen Duft von fernen Zeiten. Die Schrift hatte die feine verschnörkelte Zierlichkeit, die vor einem halben Jahrhundert allgemein war. Sie las eine Strophe:
Süß wie der Äolsharfe luftige Saiten,
So lernte deine holde Muse die Gesänge,
Und Kaliforniens endlose Weiten
Bewahren noch im Echo diese Klänge.
Sie fragte sich, wie tausend Male zuvor, was eine Äolsharfe war, aber die Schönheit und Mystik des Wortes erinnerte an die dunkel in ihrem Bewusstsein stehende schöne Mutter. Sie fiel für eine Weile andächtig in Gedanken, dann öffnete sie ein anderes Manuskript. »An C. B.« stand dort. Sie wusste, dass das »an Carlton Brown« hieß, denn es war ein Liebesgedicht ihrer Mutter an ihren Vater. Saxon dachte über den Sinn nach:
Leis bin ich vom Lärm in den Hain entwichen,
Wo über Göttern die Bäume sich neigen:
Im Efeukranz Bacchus, die Liebesgöttin,
Pandora und Psyche in ewigem Schweigen.
Auch das ging über ihr Verständnis. Aber sie atmete gleichsam die Schönheit ein. Bacchus, Pandora und Psyche – geheimnisvolle Gottheiten, bei deren Namen man schwor. Aber ach! Nur ihre Mutter kannte den Schlüssel. Seltsame, sinnlose Worte, die so viel bedeuteten. Ihre herrliche Mutter hatte die Bedeutung gekannt. Saxon buchstabierte die drei Worte laut, Buchstaben für Buchstaben, aber sie wagte nicht den Versuch, sie auszusprechen; und Ehrfurcht einflößende, tiefe und unfassbare Vorstellungen kamen und gingen in ihrem Bewusstsein. Verwirrt und geblendet machten ihre Gedanken halt beim Eingang zu einer, sternestrahlenden Welt hoch über der ihren, wo ihre Mutter daheim gewesen war. Andächtig las sie diese Verse immer wieder, mit dem Gefühl, dass ihr Strahlenglanz Licht und Klarheit auf die Welt von Unruhe und Plage werfen musste, in der sie selbst zu Hause war. Zwischen diesen geheimnisvollen Versen verbarg sich der Schlüssel. Konnte sie ihn nur finden, so wurde alles klar – davon war sie fest überzeugt. Sie würde die scharfe Zunge Sarahs, ihren unglücklichen Bruder, die Grausamkeit Charley Longs, den Überfall auf den Buchhalter verstehen, den Sinn der tagelangen, monatelangen, jahrelangen Mühe am Plättbrett. Und überwältigt von dieser Poesie, dieser Menge von Mysterien, rollte sie das Manuskript zusammen und legte es weg. Wieder griff sie in die Lade und suchte die Lösung des Rätsels zwischen den letzten teuren Erinnerungen an die geheime Seele ihrer Mutter.
Diesmal war es ein mit Band zusammengebundenes Päckchen in Seidenpapier. Sie öffnete es vorsichtig mit dem Ernst und der Umständlichkeit eines Priesters vor dem Altar. Ein kleiner spanischer Gürtel aus roter Seide, mit Fischbein, fast wie ein kleines Korsett, kam zum Vorschein, ein Putz, wie die Frauen der ersten Ansiedler ihn trugen, als sie über die Prärie kamen. Es war eine Handarbeit nach dem alten spanisch-kalifornischen Modell. Selbst das Fischbein war zu Hause aus dem Rohmaterial bereitet, das die Alten von den Walfängern für Häute und Talg eingetauscht hatten. Den schwarzen Spitzenbesatz hatte ihre Mutter selbst verfertigt. Die dreifache Kante aus schwarzem Samtband – jeden Stich hatte ihre Mutter selbst genäht.
Saxon versank in