Kalte Nacht. Anne Nordby

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Kalte Nacht - Anne Nordby

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Angerufenen betroffen, als sie von dem Unfall hörten, und einige haben ein wenig aus dem Leben von Tina und Jochen erzählt. Dass sich die beiden eigentlich nie gestritten haben, zumindest nicht vor anderen. Jochen sei ein ruhiger, freundlicher Mensch und immer auf Harmonie bedacht gewesen. Nur seine ältere Tochter, die habe er öfter zurechtgewiesen. Eva-Lotta sei ein typischer Teenager mit allen Allüren, wie man sie sich vorstellen kann. Im Umgang mit Ronja hingegen hätten sowohl Jochen als auch Tina eine Engelsgeduld bewiesen, denn Ronja sei durch die Trisomie 21 ein sehr anstrengendes Kind. Und einer der Männer, mit denen Skagen telefoniert hat, gab sogar zu, dass er das behinderte Mädchen extrem nervig fände und er Jochen und Tina deswegen bemitleidet habe. Etwas Ähnliches schwang bei einer der Frauen aus Nowaks Bekanntenkreis mit. Sie drückte sich jedoch nicht so drastisch aus: Ronja sei wild und laut, waren ihre Worte. Aber auch offenherzig und erschütternd ehrlich. Manchmal leider ein wenig aggressiv. Da hat Skagen nachgehakt. Die Frau erzählte, dass Ronja durch ihre Behinderung teilweise nicht wisse, wann sie aufhören müsse. Deshalb ginge sie bei Raufereien manchmal zu weit. Einem Jungen im Kindergarten habe sie sogar den Arm gebrochen. Das ist allerdings Jahre her, und seitdem wäre nichts mehr in der Art passiert. Dennoch ist der Frau aufgefallen, dass Tina Nowak oft blaue Flecken an ihren Armen und Beinen gehabt habe. Von Ronja, wie Tina behauptete. Auf Skagens Frage hin, ob die Frau glaube, dass Tina die Blessuren von jemand anders als Ronja habe, schwieg diese. Danach haben sie nur noch darüber geredet, dass sich Tina schon länger nicht mehr bei ihr gemeldet habe – wie auch bei allen anderen der Angerufenen. Mit WhatsApp sei es das Gleiche, darüber würde Tina generell wenig kommunizieren, und seit sie mit Jochen nach Schweden gefahren sei, herrsche absolute Funkstille.

      Skagen sieht auf, weil er vor der Glastür des Besprechungsraumes eine Bewegung wahrnimmt. Dort steht Kaisa und lässt anzüglich ihre Augenbrauen tanzen. Sie drückt ihre Lippen auf die Scheibe und ein rosafarbener Kussmund bleibt zurück. Demonstrativ schüttelt Skagen den Kopf, woraufhin Kaisa die Tür einen Spalt öffnet.

      »Schade, und ich habe gedacht, ich kriege das erste Date mit dir, Lillebror«, sagt sie grinsend und rollt ihr R stärker als sonst. »Aber gegen eine waschechte Schwedin kann ich natürlich nicht anstinken.«

      »Ich habe kein Date.«

      »Nee, ist klar. Deswegen hat sie eben auch nicht noch mal angerufen. Auf der Durchwahl im Büro, weil dein Handy dauerbesetzt ist.«

      »Was wollte sie denn?«

      »Ein Kind von dir.«

      Skagen bedenkt sie mit einem genervten Blick.

      »Sorry. Ich weiß es nicht.« Kaisa hebt die Schultern. »Aber es klang dringend.«

      Skagen bedankt sich und wartet, bis seine Kollegin gegangen ist, dann hält er das Handy an sein Ohr. »Hej, Maja. Was ist los?«, fragt er, und dabei schlägt sein Herz schneller, als er möchte. »Habt ihr Frau Nowak gefunden?«

      »Nein. Aber es gibt eine Neuigkeit aus der Gerichtsmedizin.«

      Statt sich zu beruhigen, rast Skagens Herz weiter. Schweiß rinnt seine Schläfen hinab, und er wischt ihn fahrig weg. »Die Todesursache des Mädchens?«

      »Nein, die ist noch unklar. Dafür steht fest, dass sie vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte.«

      Skagen lässt die Information sacken, während Maja weiterredet: »Es sind minimale Verletzungen im Genitalbereich und an den Oberschenkeln festzustellen. Sie liegen allerdings im Bereich eines normalen Geschlechtsverkehrs, sagt unser Rechtsmediziner. Was nicht zwingend heißen muss, dass er einvernehmlich stattgefunden hat. Auf jeden Fall wurde ein Kondom benutzt. In der Vagina wurde ein Spermizid gefunden. Leider konnte kein einziges Spermium sichergestellt werden.«

      »Es könnte trotzdem ein Missbrauch vonseiten des Vaters gewesen sein«, sagt Skagen. »Möglicherweise hat er vorgesorgt und stets ein Kondom benutzt, damit sie nicht schwanger wird, weil sonst der Missbrauch aufgeflogen wäre.«

      »Durchaus möglich«, bestätigt Maja. »Es würde auch unsere Theorie vom erweiterten Selbstmord stützen. Vielleicht fühlte Jochen Nowak sich schuldig und hat es nicht mehr ausgehalten.«

      Skagen gibt einen zustimmenden Laut von sich, bevor er für Maja kurz wiederholt, dass die Freunde der Familie alle berichtet hätten, bei den Nowaks sei angeblich alles in Ordnung gewesen. Bis auf Tinas blaue Flecken, die jedoch von Ronja stammen sollen.

      »Das klingt für mich eher nach einer Ausrede der Mutter«, entgegnet Maja. »Auf jeden Fall überprüfen wir, ob die jüngere Tochter ebenfalls Geschlechtsverkehr hatte. Ich gebe den verantwortlichen Ärzten im Krankenhaus Bescheid.«

      »Gut.«

      »Da ist noch etwas. Wir haben einen Drohbrief im Mülleimer der Familie gefunden. Darauf steht: ›leave this place or I kill you‹.«

      »Hm.«

      »Wir glauben, dass er von einem der Dorfbewohner stammen könnte, der nicht wollte, dass die Deutschen sich in Hultsjö ansiedeln. Bisher gibt es aber keinen Hinweis darauf, wer genau dahintersteckt. Die Leute im Dorf sind wie zugeknöpft. Ehrlich gesagt, treiben die mich in den Wahnsinn. Entweder sind sie krankhaft neugierig oder verweigern stur jegliche Aussage.«

      »Aha.«

      »He, Tom. Ist was mit dir? Du klingst so niedergeschlagen.«

      Skagen blinzelt. Maja hat früher ein gutes Gespür für seine Stimmungen gehabt, offensichtlich hat sich daran nichts geändert.

      »Sorry, heute ist kein besonders guter Tag«, entgegnet er rasch.

      »Kann ich verstehen. Bei uns brennt ebenfalls der Baum.«

      Plötzlich taucht Jette neben Skagen auf und lässt ihn erschrocken zusammenfahren.

      »Tom, du arbeitest gerade nicht zufällig auf eigene Rechnung?« Ihr Unterton klingt scharf.

      Schnell verabschiedet sich Skagen von Maja und blickt zu seiner Chefin auf. Da es bei Jette nichts bringt, um den heißen Brei herumzureden, gibt er offen zu, dass er eben an dem Fall aus Schweden gearbeitet hat.

      »Ich hatte dir doch gesagt, dass die Kollegen vor Ort das vorerst alleine regeln müssen. Mensch, Tom. Wir haben klare Prioritäten und selbst genug zu tun, als dass wir uns jetzt auch noch darum kümmern könnten.«

      »Weiß ich doch. Ich habe denen auch nur mit Adressen und meinen Deutschkenntnissen ausgeholfen. Mehr werde ich nicht tun, versprochen.«

      »Okay, dann geh jetzt wieder zu Jens, er braucht deine Unterstützung. Norwegen wartet auf unsere Ergebnisse.«

      Skagen nickt und steht auf.

      10

      In der Woche davor

      Tina läuft durch den Wald und ruft nach Ronja, aber nirgendwo ist ihre Tochter zu entdecken. Sie bleibt stehen und formt mit den Händen einen Trichter. »Ronjaaa! Wo bist du?«

      In der Ferne ertönt der kollernde Ruf eines Raben, als antworte dieser an Ronjas Stelle. Ansonsten herrscht eine allumfassende Stille. Nicht mal Vögel zwitschern. Ist das normal?, fragt sich Tina. Sind Vögel normalerweise nicht überall? Auch kann sie keine Grillen hören. Der Wald wirkt irgendwie … tot.

      Ängstlich dreht sie sich um. Die Nadelbäume stehen dicht an dicht und lassen kaum Sonnenlicht durchsickern.

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