Kalte Nacht. Anne Nordby

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Kalte Nacht - Anne Nordby

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Grund dafür, aber die geologische Erklärung mit dem Gletschergeröll erscheint ihr auf einmal weniger plausibel. Sie ahnt, warum sich die Skandinavier all diese düsteren Geschichten erzählen. Der Wald sieht tatsächlich aus, als bräche gleich ein zotteliges Fabelwesen durchs Unterholz, um sie, den Eindringling, aufzufressen. Keine Frage, der Wald in Schweden besitzt eine weit bedrohlichere Qualität als der in Deutschland. Vermutlich ist es die schiere Größe, die auf Tina so bedrückend wirkt. Wer weiß schon, was sich alles darin verbirgt?

      »Ronja?«, ruft sie erneut, diesmal leiser. Zweige knacken unter ihren Füßen. Der Rabe antwortet in der Ferne, und nun haben auch die Mücken sie entdeckt und sirren um sie herum. Tina verscheucht sie mit der Hand.

      Dieses diffuse Gefühl von Angst, das gegen ihren Nacken drückt und mit jeder Sekunde stärker wird. Unwillkürlich zieht Tina die Schultern hoch und blickt sich um. Ob es hier Wölfe gibt? Oder Bären? Was, wenn Ronja nicht mehr auftaucht? Wenn sie sich verlaufen hat? Sie ist bestimmt in den Wald gegangen, weil sie ihre Trolle suchen wollte.

      Schweiß läuft Tinas Hals hinab und in den Ausschnitt ihres T-Shirts. Die Luft ist feucht und stickig. Das Surren der Mücken wird nervtötender. Das ist definitiv ihr Reich. Der Mensch hat nichts darin verloren. Er ist lediglich Futter.

      Tina beschleunigt ihre Schritte. Das Rufen hat sie aufgegeben. Sie will raus aus dem Wald. Immer schneller rennt sie über den unebenen Grund, weiß eigentlich gar nicht, in welche Richtung sie sich wenden soll. Die dünnen Sohlen ihrer Ballerinas lassen sie jeden Stein unter ihren Füßen spüren.

      In ihrer Hast stolpert sie über einen Ast und fällt hin. Erschrocken saugt sie Luft ein, weil ein scharfer Schmerz durch ihr Bein schießt. Als das Stechen nachlässt, sieht Tina an sich hinab. Aus einer Schramme am Schienbein sickert Blut. Aber da ist noch etwas anderes. Es liegt neben ihr im niedrigen Blaubeergestrüpp, und ein süßlich muffiger Geruch geht davon aus.

      Ein totes Tier.

      Das bräunliche Fell hängt in Fetzen von den bleichen Knochen, die von schwarz verfärbten Geweberesten zusammengehalten werden. Der Kopf ist nicht zu sehen, dennoch glaubt Tina, dass es sich um ein junges Reh handelt. Viel ist nicht mehr davon übrig, andere Tiere haben sich daran satt gefressen, haben Knochen zermalmt und den halben Rumpf verschlungen.

      Tina muss würgen. Schnell stemmt sie sich auf die Füße und entfernt sich von dem verwesenden Kadaver. Mit ungehaltenen Bewegungen streicht sie sich den Schmutz vom Rock. In Hamburg wäre ihr das nicht passiert. Dazu noch diese vielen Mücken. Wild fuchtelt Tina in der Luft herum und fühlt sich nicht zum ersten Mal absolut fehl am Platz.

      Sie richtet sich auf, muss Ronja finden und dann endlich raus hier. Aber von ihrer Tochter ist nach wie vor nichts zu sehen. Allerdings hat Tina mittlerweile auch keine Ahnung mehr, welcher Weg zum Haus zurückführt. Oder zur Straße. Sie hat nicht darauf geachtet, in welche Richtung sie gegangen ist, als sie das Grundstück verlassen hat. Definitiv ein Fehler bei ihrem schlechten Orientierungssinn. Wie weit hat sie sich vom Haus entfernt? Wenn sie ihr Handy dabeihätte, würde sie einfach die Standortbestimmung benutzen, aber das Gerät liegt im Schlafzimmer auf dem Nachttisch. Sie könnte nach Jochen rufen. Tina verwirft den Gedanken. Der hört sie bestimmt nicht, schließlich ist er dabei, die Wand einzureißen. Nein, sie wird das allein schaffen müssen.

      Tina will gerade losgehen, als ein lautes Knacken sie zusammenfahren lässt. Langsam dreht sie sich um und blickt in den finsteren Wald. Dort ist niemand.

      »Ronja?«, ruft sie unsicher. »Bist du das?«

      11

      Als Skagen spät am Abend seine Zwei-Zimmer-Wohnung im Schanzenviertel aufschließt und ihm dickflüssige, saunaähnliche Luft entgegenschwappt, wird seine Laune schlechter, als sie eh schon ist. Vom Treppensteigen klitschnass geschwitzt wirft er seine Umhängetasche aufs Sofa und reißt sämtliche Fenster auf, um die Chance auf einen möglichen Lufthauch nicht zu verpassen. Von der Straße schallen lautes Gelächter, Gläserklirren und Gespräche zu ihm herauf. Ein ganz normaler Sommerabend auf der Schanze. Es gibt nicht viele Polizisten, die gerne in diesem Viertel wohnen, wo einem die Kundschaft quasi täglich über den Weg läuft, aber Skagen hat kein Problem damit.

      Er zieht sich um und trinkt eiskaltes Wasser, bis seine Stirn schmerzt. Danach setzt er sich mit T-Shirt und Sporthose bekleidet auf einen Stuhl vor eines der Fenster. Leider hat er keinen Balkon, auf dem er der Backofenhitze in der Mansardenwohnung entfliehen könnte. Da hilft nur eines: nicht bewegen.

      Draußen ist die Sonne bereits untergegangen, trotzdem will kein Lüftchen zu ihm hereinwehen. Unablässig strömt Skagen der Schweiß über die Haut. Normalerweise wäre er zu einer nächtlichen Joggingrunde aufgebrochen, um den Druck loszuwerden, der sich in ihm aufgebaut hat. Doch dafür ist es viel zu heiß. Wenn er nicht an einem Hitzschlag sterben will, muss er sich etwas anderes überlegen, um die hartnäckigen Erinnerungen an Karlskrona abzuschütteln. Leider steht alles glasklar vor ihm. Und damit auch der Schmerz, den die Schuld tief in seinem Innern pulsieren lässt. Dabei hat er in den vergangenen Jahren so hart daran gearbeitet, dieses Gefühl zu bewältigen. Hat sich bemüht, damit zu leben und sich nicht mehr davon beeinflussen zu lassen. Und obwohl Maja eigentlich ein schöner Teil seiner Erinnerungen sein sollte und sie rein gar nichts mit dem zu tun hat, was damals auf See passiert ist, hat es sich durch sie doch wieder in den Vordergrund gedrängt. Das ewige Zerren der Schuld und die selbstzerfleischende Frage, warum er noch am Leben ist und andere nicht.

      Skagen betrachtet die Tätowierung auf seinem Unterarm.

      Alfred, Julia, Sam, Xaashi.

      Die Namen der Toten von der Signe Merkur. Dem Schiff, das sein Leben verändert hat und ihn bis in alle Ewigkeit begleitet. Bis zu dem Tag, an dem er ihnen folgen würde.

      Alfred, Julia, Sam, Xaashi … Tom.

      Ein erneuter Kälteschauer packt ihn und lässt ihn am ganzen Körper zittern.

      Was ergibt das alles noch für einen Sinn? Dieser ewige Kampf ums Vergeben und Vergessen und darum, dabei nicht unterzugehen.

      Es ist hoffnungslos. Wenn allein ein einziges Telefonat alles zunichtemachen kann. Wenn praktisch jede Stimme aus der Vergangenheit seinen mühsam aufrechterhaltenen Schutzmechanismus zum Einsturz bringt.

      Skagen wird übel und er schlingt die Arme um seinen Leib. Die Haut auf seinen Wangen spannt sich und der Schweiß auf seinem Gesicht fühlt sich kalt an, genau wie die Panik in seinem Magen, die sich wie tausend Nägel in seine Eingeweide bohrt.

      Keuchend beugt er sich vor und presst beide Unterarme fest auf seinen Bauch. Eigentlich müsste er jetzt Evelyn anrufen. Seinen PTBS-Engel. Als seine Therapeutin wüsste sie, was zu tun wäre, doch leider ist sie gerade im Urlaub. Und irgendwie kommen Skagen die vielen Stunden, die sie gemeinsam an seinem Trauma gearbeitet haben, mit einem Mal nutzlos vor. Vollkommen umsonst hat er all seine Kraft in die Hoffnung gesteckt, dass er es schaffen könnte.

      Es schaffen!

      Ein bitteres Lachen dringt aus seinem trockenen Mund und bringt einen neuen Schwall Übelkeit mit sich. Es dauert einen Moment, bis er sich wieder unter Kontrolle hat und er normal atmen kann. Eine solch schwere Angstattacke hatte er schon lange nicht mehr.

      Wenn das jemals vor seinen Kollegen im Büro passieren sollte, würde er seinen Job verlieren.

      Skagen wirft einen Blick zu seinem Handy hinüber. Selbst wenn Evelyn seinen Anruf annehmen würde, was könnte sie tun? Skagen hört ihre Stimme in seinem Ohr: »Du hast einen Rückfall, ausgelöst durch einen Trigger. Das ist nicht schlimm, Tom, wirklich. Versuch,

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