Die fünfte Jahreszeit. Anette Hinrichs
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Читать онлайн книгу Die fünfte Jahreszeit - Anette Hinrichs страница 16
»Meine liebe Charlotte, bitte entschuldige, dass du so lange warten musstest. Bitte nimm doch Platz.« Ganz Gentleman, ging er auf einen Chromstuhl zu, um ihn ein wenig abzurücken, und setzte sich dann selbst auf einen schwarzen Lederdrehstuhl hinter seinem Schreibtisch.
»Deinen Charme kannst du woanders versprühen. Sag mir lieber, warum du mich so lange warten lässt.« Charlotte machte keinerlei Anstalten, sich zu setzen.
»Du wirst sehen, es hat sich gelohnt. Schau selbst.« Er reichte Charlotte eine Mappe.
»Was soll das? Warum musste ich extra aus Kiel herkommen?«, fragte sie mit säuerlicher Miene.
»Schau rein«, forderte er sie auf.
»Sag du es mir.«
»Okay, dann mache ich es kurz. Wir haben von den Amerikanern ein Angebot für die Filmrechte deiner Krimireihe bekommen. Ein fantastisches Angebot sogar.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Eine Million Dollar. Was sagst du dazu?«
»Nein«, antwortete Charlotte knapp.
»Wie, nein?«
»Ich möchte nicht, dass meine Bücher von den Amerikanern verfilmt werden.«
« Ich bin sicher, dass der Preis noch verhandelbar ist, wenn es das sein sollte, was dich stört.« Thompson streckte seine langen Beine aus und strich nervös über seine Krawatte.
»Simon, darum geht es nicht. Mir gefällt einfach diese ganze Kommerzkiste der Amis nicht. Die werden meine ganzen Geschichten verzerren. Wenn ich überhaupt irgendwelchen Verfilmungen meiner Bücher zustimme, dann will ich ein Mitspracherecht bei den Schauspielern und den Drehorten. Glaubst du vielleicht, dass die Amis hier in Deutschland drehen würden?«
»Tja, ich weiß nicht, aber Babelsberg ist im Kommen. Auch bei den Amerikanern. Einen Versuch wäre es wert. Solange du nicht auch noch das Drehbuch absegnen willst.«
Charlotte sah ihn eindringlich an.
»Du willst Mitspracherecht bei den Drehbüchern?«, fragte er ungläubig.
»Entweder so oder gar nicht. Sieh zu, Simon, du bist mein Agent. Jetzt kannst du endlich mal zeigen, wie gut du wirklich bist.« Charlotte griff nach ihrem Trenchcoat. Sie winkte dem verblüfften Literaturagenten noch einmal kurz zu und verließ dann zufrieden lächelnd das Büro.
Sollte er doch mal was tun für sein Geld. Filmrechte an die Amis, nicht schlecht, Charlotte, lobte sie sich im Stillen. Vor sich hin summend trat sie in den Empfangsbereich. Eingesunken auf einer riesigen Ledercouch saß eine kleine, rundliche Gestalt, die sich bei ihrem Anblick sofort erhob.
»Komm, Alma, wir haben etwas zu feiern. Wir gehen jetzt shoppen und kleiden uns von oben bis unten neu ein.« Übermütig umarmte Charlotte ihre Tante und drehte sich mit ihr im Kreis.
»Was ist denn mit dir los, Kindchen? Auf einmal so gute Laune?«
»Ach, Alma, es ist doch ein herrlicher Tag heute.« Charlotte lächelte sie liebevoll an.
»Na, ich weiß nicht«, antwortete Alma mit einem skeptischen Blick durchs Fenster.
Sie schlenderten den Neuen Wall entlang und sahen sich die aktuelle Winterkollektion in den Geschäften der internationalen Designer an. Der Nieselregen war in einen kräftigen Schauer übergegangen, was Charlotte als Veranlassung sah, bei einem französischen Nobelausstatter einen pinkfarbenen Regenschirm für einen astronomisch hohen Preis zu erstehen. Die passende Handtasche für den Gegenwert eines ausländischen Kleinwagens kaufte sie gleich dazu.
Untergehakt, mit einem halben Dutzend Tüten bepackt, gingen sie vergnügt unter dem neuen Schirm Richtung Rathausmarkt. Bei den Alsterarkaden blieben sie kurz stehen, lauschten einem Geigenspieler und beobachteten die Schwäne. Dem Wetter zum Trotz suchten sich rund um das Areal des Rathauses eine Heerschar von Touristen, Geschäftsleuten und zahlreichen Einkaufswütigen, ebenfalls gut beschirmt, ihren Weg.
Charlotte und Alma überquerten den großen Platz und bewunderten die prächtige Fassade des Rathauses. Wie immer, wenn Charlotte vor dem Regierungsgebäude stand, wanderten ihre Gedanken zu ihrem Vater. Viktor Leonberger war Mitte der achtziger Jahre Senatsmitglied der Hamburger Landesregierung gewesen.
Charlotte schaute Alma an. Ihre Tante schien ebenfalls an ihren verstorbenen Bruder zu denken.
»Café Paris?«, fragte Charlotte aufmunternd, um keine Schwermut aufkommen zu lassen.
Alma sah sie mit ihren dunklen Knopfaugen traurig an. Dann überzog ein verschmitztes Lächeln das runzelige Gesicht. »Café Paris«, bestätigte sie.
Sie schlenderten zur Rathausstraße, und sobald sie das Café betraten, tauchten sie in eine Welt längst vergessener Zeiten. Die gekachelten Wände und Decken des 1882 gebauten Hauses waren ein Jugendstiltraum mit Ornamenten und Gemälden.
Charlotte und Alma steuerten einen der wenigen freien Tische an. Alma ließ sich erschöpft auf die dunkelgrüne Lederbank fallen, und griff nach der Karte. Obwohl es fast mittags war, bestellten beide das französische Frühstück. Charlotte organisierte sich eine Ausgabe der Hamburger Tageszeitung, die kostenlos zur Verfügung gestellt wurde, und blätterte rasch die Seiten durch. Währenddessen bewunderte Alma das bunte Seidentuch, dass Charlotte ihr spendiert hatte.
»Leg es um«, forderte Charlotte ihre Tante auf, nachdem sie die Zeitung beiseite gelegt hatte.
»Hier?«
»Wo denn sonst, wenn nicht hier? Kannst du nicht das Pariser Flair spüren, das uns hier umgibt?« Sie lächelte Alma aufmunternd zu.
Die legte das Seidentuch andächtig um ihren Hals. »Es ist wunderschön. Vielen Dank, Charlotte.«
Sie lächelten sich an.
Eine Kellnerin brachte das Frühstück und stellte die vielen Teller auf den kleinen Tisch. »Darf ich die mitnehmen?«, fragte sie höflich und wies dabei auf die Zeitung.
»Gerne«, erwiderte Charlotte und tunkte ein Croissant in ihren Kaffee.
»Moment, warten Sie!« Alma Leonberger langte nach der Zeitung und starrte auf einen Artikel. Die Kellnerin entfernte sich diskret. »Das ist Richard Woy!« Alma zeigte auf ein Foto.
»Das Opfer vom Torhausmord? Die Polizei scheint noch keine Erfolge erzielt zu haben, die Artikel werden immer spärlicher.« Charlotte fixierte die blasse Miene ihrer Tante und fragte dann überrascht: »Du kennst seinen Nachnamen? Alma, kennst du diesen Mann?« Sie legte das restliche Croissant zurück auf den Teller.
»Du kennst ihn auch. Das ist Dr. Richard Woy. Charlotte, er war dein Kinderarzt.«
Charlottes Puls beschleunigte sich. Die Anrufe, der nachgestellte Tatort und ihr Kinderarzt – das waren eindeutig zu viele Zufälle.
Die Tote vom Fabrikgelände war anhand des Zahnschemas als Viktoria Steiner identifiziert worden.
Von den Eltern der Toten hatten sie eine Liste mit Namen von Verwandten und Freunden ihrer Tochter erhalten. Es würde Tage dauern, alle zu überprüfen. Malin entfuhr ein Stöhnen.
»Fricke