Zurück im Zorn. Christoph Heiden

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Zurück im Zorn - Christoph Heiden

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nicht erinnern.«

      »Komisch, wir waren nämlich best friends.«

      Der Bus rollte über ein Schlagloch, und ihre Köpfe stießen beinahe zusammen. Danny maulte etwas Abfälliges über den Busfahrer, dann umfasste er mit beiden Händen die Lehne und zog sich über den Sitz dicht an sie heran.

      »In der Scheiße zu graben, bringt Lennart nicht zurück.« Mit einer flinken Bewegung drückte er den Knopf für den Haltewunsch. »Koloniestraße«, bemerkte er kühl. »Du musst aussteigen.«

      Anna rang sich ein höfliches Lächeln ab, und während sie zur Tür schritt, fiel ihr ein weiterer Spitzname ein. Ihr Bruder hatte ihn oft und gern benutzt und ihr damit eine Heidenangst eingejagt. Gut 20 Jahre später bekam Psycho-Danny nicht nur ein Gesicht verpasst, sondern auch eine charmante Art. Sie wandte sich ein letztes Mal um und sah ihn telefonieren. Sie fragte sich, ob Psycho-Danny genug psycho war, um psychopathische Briefe zu schreiben. Der Linienbus stoppte, die Tür öffnete sich und die Landschaft empfing Anna in einem so grellen Weiß, dass sie beim Aussteigen die Augen zukneifen musste.

      Dinosaurier

      Willy klopfte mit dem Hacken seiner Schuhsohle so lange auf den Schlagschlüssel, bis das Schloss nachgab und sich öffnen ließ. Er schob das Werkzeug in seine Weste und vergewisserte sich mit einem Schulterblick, dass die Luft rein war, dann streifte er auch den linken Schuh ab und tapste ins Haus.

      Als er in Socken, aber mit Mütze und Handschuhen durch Lisbeths Diele schlich, fand er die Situation reichlich absurd. Im Geiste erschien ihm das Bild eines Demenzkranken, der vergessen hatte, wohin er seine Schuhe gestellt hatte; gleichzeitig war ihm bewusst, dass er gerade einen Einbruch beging. Vorbildfunktion?, dachte er. Damit hatten eher seine braven Kollegen glänzen können.

      Er betrat die Wohnstube und sah sich um. Unzählige Male hatte er das Sofa mit dem Feldstecher anvisiert, Nächte über Nächte, in denen er Lisbeth beim Fernsehen beobachtet hatte. Im Handschuhfach seines Wagens steckte sogar eine TV-Zeitschrift, um ihre Vorlieben zu ermitteln, und als sie sich einmal für eine seiner Lieblingssendungen – »Panda, Gorilla und Co.« – entschieden hatte, hätte Willy ihr am liebsten die Antenne vom Dach gerissen. Heute mahnte er sich zu Distanz und Nüchternheit. Er zog aus der Weste eine Digicam und begann, die Wohnstube abzufilmen.

      Links die Sitzgarnitur mit dem Fernseher und der Stehlampe, deren Fransenschirm über einem Sessel thronte, rechts die Vitrine aus Massivholz. Hinterm Glas allerlei Nippes, der vor Kurzem nicht nur abgestaubt, sondern auch poliert worden war; neben pausbäckigen Engelsfiguren reihten sich mit Blattgold verzierte Eierbecher, und auf dem obersten Regal schmollte ein Wackel-Elvis, der zwischen den Engeln ziemlich obszön wirkte. Nirgends fand Willy Spuren, die eindeutig bewiesen, dass sich Lisbeth auf ein Leben zu zweit einstellte. Während sich in den letzten fünf Jahren seine Recherchewand zum Zentrum seiner Wohnstube entwickelt hatte, war hier alles beim Alten geblieben; das ärgerte ihn noch mehr als die Tatsache, dass sie überall ihre Trauerkluft präsentierte. Er wollte gerade die Aufnahme pausieren, da weckte eine Kommode unter dem Fenster seine Neugier.

      Willy öffnete die obere Schublade und fand Knöpfe, Nähzeug und eine Sammlung hellblauer Flicken, wie sie Eva auch aus abgetragenen Jeans geschnitten hatte. Verdammte Mangelwirtschaft, dachte er. Die Schublade darunter war randvoll gefüllt mit weißen Stofftaschentüchern; jedes Exemplar schien gebügelt und anschließend fein säuberlich zusammengelegt worden zu sein. Es musste Jahre her sein, dass er das letzte Mal ein echtes Stofftaschentuch benutzt hatte. Mittlerweile kannte er so was nur aus alten Filmen, in denen Männer weinenden Frauen eins anboten oder jemand ein weißes Taschentuch zum Zeichen der Kapitulation um einen Stock wickelte. Willy zupfte ein Tüchlein heraus und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn, dann entdeckte er unter dem Stapel einen Bilderrahmen.

      »Sieh dir das an«, flüsterte er. »Papa Haudrauf und sein Baby.«

      Die Fotografie zeigte Jörg Berger vor einem Golf III, offenbar ein Neuwagen. Er lächelte in die Kamera, und Willy konnte leicht nachvollziehen, welche Freude er beim Kauf verspürt haben mochte. Als Willy mit Eva seinen ersten Opel gekauft hatte, waren sie spontan an die Ostsee gefahren, um dort beengt und unbequem im Auto zu schlafen. Wenn er sich nicht täuschte, hatte das Foto bei seinem letzten Besuch an der Wand über dem Sofa gehangen.

      »Genau dort«, sagte er und zeigte auf eine Stelle, wo Licht und Staub ein leeres Rechteck hinterlassen hatten.

      Damals waren er und sein Kollege hier teils offiziell, teils eigenmächtig aufgetaucht. Lisbeth hatte ihnen die Tür versperrt, und nachdem Willy mehrfach um Zutritt gebeten hatte, war ihm der Kragen geplatzt. Er hatte Lisbeth beiseite gegen die Wand gestoßen, was dem Kollegen später eine Aktennotiz wert gewesen war. Am Boden liegend hatte Lisbeth gebrüllt, wenn das ihr Mann wüsste, dann …

      »… würde er mir die Hölle heiß machen«, flüsterte Willy und hielt das Bild direkt vor die Kamera. »Warum versteckst du den Penner in der Kommode, hä?«

      Als man Papa Haudrauf samt Golf und Wodka unter einer Eisdecke im See gefunden hatte, war die kollektive Trauer ausgeblieben; die Gollwitzer schimpften ihn heute noch einen Kotzbrocken und Tunichtgut.

      »Wie der Vater, so der Sohn«, stellte Willy fest und schaute sich erneut um. Es hatte sich doch einiges verändert: Gegenstände, die an Jörg Berger erinnert hätten, suchte man vergebens. Keine Fotos von ihm an der Wand, keine Automagazine auf dem Couchtisch. Bergers Videosammlung war wohl dem Röhrenfernseher in den Müll gefolgt, ebenso seine Hauspantoffeln und die unzähligen Aschenbecher. Mit flüchtiger Sorgfalt schob Willy den Bilderrahmen unter die Taschentücher, dann wischte er sich mit dem Tüchlein ein letztes Mal über die Stirn, legte es zusammen und an seinen Platz zurück. Er hetzte in die Diele und von dort die Stiege zum Dachboden hinauf.

      Inzwischen erschien ihm die Situation – ein Einbrecher in Socken und Winterkleidung – nicht mehr absurd, im Gegenteil: Unter seiner Mütze rann unablässig der Schweiß herab und reizte ihm die Augen. »Meine Fresse«, knurrte er. »Wir riskieren hier Kopf und Kragen.« Er nahm die letzte Stufe und horchte angespannt in die Stille.

      Nichts.

      Allein das Gluckern des Schmelzwassers, das über die Dachziegel floss, und das Knarren der Dielen unter seinen Füßen. Er tapste weiter und verharrte schließlich vor der Stube, die Martin Berger bis zu seinem 20. Lebensjahr bewohnt hatte. Die Kinderstube eines Mörders.

      Irgendetwas hemmte Willy, die Tür zu öffnen. Waren es Respekt oder Ehrfurcht? Oder Angst? Oft genug hatte er das Haus von seinem Wagen aus beobachtet, an die 100 Mal, vielleicht auch an die 200 Mal. Seit seiner Pensionierung verfügte er über eine Menge Zeit, und nicht wenige im Dorf meinten, es sei zu viel. In der Sekunde, in der er endlich die Klinke zu drücken wagte, spürte er mit jeder Faser seines Körpers, dass sie allesamt keine Ahnung hatten. Robert Beck nicht, Lasse Kallabis ebenso wenig und seine ehemaligen Kollegen schon gar nicht. Er würde ihnen eine Lehre erteilen, ihnen allen.

      Im klaren Licht der Vormittagssonne schwebten die Flusen, die sich vom Türrahmen gelöst hatten, langsam zu Boden. Willy trat auf einen Teppich, dessen Dinosauriermotive längst verblasst waren. Unter der Dachschräge ein schmales Bett, auf der anderen Seite ein Schreibtisch und ein weißer Kachelofen. Neben dem Bett türmte sich ein Stapel Zeitschriften: Videomagazine, ein Comic über ein grünes Sumpfding, eine TV-Zeitung und ein Sexheft, das Willy bei der letzten Durchsuchung hinterm Sofa gefunden hatte. Da er es nicht für nötig gehalten hatte, das Heft an den ursprünglichen Platz zurückzulegen, waren die Brüste irgendeiner Blondine unter einer dicken Staubschicht ergraut.

      Mit steifen Händen hob er die Kamera und filmte die Dachschräge. An der Holzverkleidung waren drei Schaukästen voller aufgespießter Käfer

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