Zurück im Zorn. Christoph Heiden
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Sie schob den Rucksack gegen den Vordersitz und zog ihr Handy heraus. Laut Onlinefahrplan fuhr der Bus im Zweistundentakt von Gollwitz nach Rathenow, am Samstag und Sonntag bis 16.00 Uhr, dann war Schluss. Das hieß immerhin, dass sie sich abends mit Sonja auf ein Glas Wein treffen konnte, um darüber zu diskutieren, ob »Buffy« oder »Angel« die bessere Serie sei, dass sie in ihrem eigenen Bett schlafen würde.
»Anna Majakowski?«
Ihr Kopf schnellte hoch.
»Danny«, sagte der Mann mit der Basecap. »Danny Schmidt, erinnerst du dich?«
Riesiger Vogel
Seit 6.00 Uhr morgens saß Willy in seinem Astra und observierte das Haus, das für ihn nicht irgendein Gebäude am Rand der Gollwitzer Heide war, sondern die Kinderstube eines mehrfachen Mörders.
Er hatte den Rücken gegen die Fahrertür gelehnt, das rechte Bein auf dem Beifahrersitz und in den Händen ein Fernglas. Zwischen dem Wagen und dem Grundstück erstreckte sich die verschneite Ebene brachliegender Felder; über dem Haus die Morgensonne, so trüb wie das Auge eines alten Rüden.
Jörg und Lisbeth Berger hatten das Haus in den 70ern erbaut, damals waren beide in der LPG »Märker Land Gollwitz« beschäftigt gewesen. An der Fassade der DDR-typische Kratzputz, ein Gemisch aus Zement, grobem Kies und schmutziger Arbeit. Rechts gelangte man durch ein Holztor zu einem Schuppen und einer Garage, in der früher einmal Bergers Golf gestanden hatte. Jörg Berger war 2014 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, seitdem lebte Lisbeth allein auf dem Grundstück.
Willy legte den Feldstecher beiseite und öffnete die unterm Kinn verschnürten Ohrenklappen seiner Mütze, dann schraubte er die Thermoskanne auf und goss sich den letzten Rest Kaffee ein. Wenn er unterwegs war, benutzte er Kondensmilch aus kleinen Plastikbehältern; er stach mit dem Daumennagel die Alufolie auf, damit die Milch beim Öffnen nicht herausspritzte, und tröpfelte geduldig die Sahne in den Kaffee. Anschließend schmiss er die Verpackung in den Fußraum auf der Beifahrerseite, wo sich leere Bierflaschen häuften. Er pustete über den Becher, nippte und hob wieder das Fernglas. Morgenroutine.
Bei Tagesanbruch war Lisbeth von einem Raum zum nächsten gelaufen, um die Öfen anzuheizen; jetzt qualmte der Schornstein und in der Küche brannte Licht. Sie saß über ein Prospekt gebeugt am Tisch und trank ebenfalls Kaffee. Er wusste, dass sie die Angebote vom Netto ausgiebig zu studieren pflegte; oft genug hatte er sie dabei beobachtet. Sie blätterte langsam vor und zurück, während Willy sich im Gähnen übte. Nach Jahrzehnten im Schichtdienst, entweder auf Wache oder Streife, verfehlte Koffein bei ihm jede Wirkung, selbst am Abend zur Tagesschau gönnte er sich eine Tässchen Kaffee, ohne nachts Polka tanzen zu müssen. Er hakte den Daumen ins Knopfloch seiner Weste und riss übertrieben die Augen auf.
Nach einer Weile erhob sich Lisbeth und begann, erneut von Stube zu Stube zu laufen. Ihre Betriebsamkeit machte ihn halbwegs munter, als bestünde zwischen ihnen eine Art Verbindung. Er drehte den Becher auf die Kanne und fokussierte den Feldstecher neu. Da löschte sie das Licht der Abzugshaube, und das Küchenfenster war so dunkel wie der Rest des Hauses. Willy schwenkte hinüber zur linken Giebelseite, wo sich ein flacher, unverputzter Anbau befand. Ein Hühnerstall mit Außengehege. Gelangweilt folgte er den braun gefiederten Hennen, die draußen herumstolzierten und ihre Schnäbel in den Schnee hackten. Fressen, kacken, weiter fressen. Vielleicht kommt mal ein Marder oder Fuchs vorbeispaziert und sorgt für Abwechslung, dachte er und stellte sich gleichzeitig Lisbeths Gesicht vor – ihre Augen, die der Schreck aus den Höhlen treten lässt, ihre Hände, die sich in ihre Wangen krallen, ihr Mund, der sich zu einem lautlosen Schrei öffnet, genau wie bei diesen bleichen Frauen in den alten Stummfilmen. Willy genoss seine Fantasie so lange, bis der Fokus seines Feldstechers den Giebel hinaufkletterte.
Direkt unterm Dach mit Blick auf den Hühnerstall lag das Zimmer ihres Sohnes. Seit Martin Berger weggesperrt worden war, hatte Willy dort nicht ein einziges Mal das Licht brennen sehen. Lisbeth schien die Stube niemals zu betreten, was er früher als Ausdruck tiefer Scham interpretiert hatte. Mein Sohn, der Mörder. Mein Sohn, die Schande der Familie. Mittlerweile war er überzeugt, dass Martin alles so vorfinden sollte, wie er es am Tag seiner Verhaftung zurückgelassen hatte. Echte Mutterliebe eben.
Willys Astra, der über keine Standheizung verfügte, war längst ausgekühlt. Er legte das Fernglas auf den Schoß, neigte sich zur Rückbank und griff nach seiner Fleecejacke, wobei ihn ein Stechen im Bauch erschaudern ließ.
»Danny, du blöde Sau.«
Unter Schmerzen fischte er aus der Innentasche ein loses Hustenbonbon, schob es sich in den Mund und streifte anschließend die Jacke über die Weste. »Ich hätte ihn einbuchten sollen«, sagte er. »Das wäre ihm eine Lehre gewesen.« Eva reagierte mit keiner Silbe, und Willy besah sich seine schrundigen Finger, als sei er pikiert über ihr Schweigen.
Eine weitere Stunde verstrich ereignislos, und er stellte das Radio an, rutschte in eine bequeme Position und verschränkte die Arme vor der Brust. Er lauschte den Nachrichten über ein Europa, das seine Liebe für Grenzzäune wiederentdeckte, über Brüllaffen, die Politik machten, und Mutter Merkel, deren Thron zu wackeln begann, über Terroristen und Selbstmordattentäter, und mit jeder neuen Horrormeldung sanken seine Lider ein Stückchen tiefer.
Wie der Schatten eines riesigen Vogels erschien Lisbeth in der Auffahrt. Er brauchte einen Moment, um ihre Präsenz zu begreifen, dann fuhr er zusammen, als hätte man ihm einen Stromstoß versetzt. Sie öffnete einen Torflügel, bugsierte einen Pfosten davor und verschwand in der Garage.
»Wo will die Alte bloß hin?«, wandte er sich an Eva. Er stellte das Radio aus und langte nach dem Fernglas. Es war nach zehn, und der Himmel erstrahlte in einem kühlen, metallischen Blau. »Sonderangebote ramschen, was sonst.«
Lisbeth schob die Simson heraus, trat den Ständer runter und verschloss das Tor. Wie üblich war sie ganz in Schwarz gekleidet: Die Jeans und die Lederjacke, die plumpen Stiefel und der Motorradhelm, der am Lenker hing. Willy fühlte sich von der öffentlichen Zurschaustellung ihrer Trauer seit jeher provoziert. Ihr Junge war weder verbrannt noch an seiner eigenen Kotze erstickt; Martin Berger hockte zwar in der Klapse, war dafür aber quicklebendig und bald auf freiem Fuß. Verdammtes Rechtssystem, dachte Willy und spürte das Stechen in seinem Bauch.
Lisbeth stülpte sich eine Mütze übers Kraushaar, danach den offenen Helm. Aus einer olivgrünen NVA-Tasche, die hinten am Gepäckträger festgeschnallt war, zog sie ein Paar Handschuhe; natürlich in schwarz. Sie trat mehrmals den Kickstarter durch, und sobald der Motor ansprang und den ersten Qualm hustete, kletterte sie auf den Sitz. Sie ließ die Maschine im Leerlauf rattern, beide Hände am Lenkrad, den Blick in Richtung Feld.
Zunächst wollte Willy seinen Augen nicht trauen und drehte fieberhaft an der Schärfe, doch täuschte er sich nicht. »Meine Fresse«, sagte er. »Die Alte grinst mich an.«
Mit flatternden Hosen fuhr Lisbeth den Falkenberger Weg entlang, bog anschließend auf die Dorfstraße, und erst als sie außer Sicht war, merkte Willy, dass er zu atmen vergessen hatte.
Nimm dich in Acht
»Danny Schmidt«, wiederholte der Mann, der nun eine Reihe vor ihr saß. »Aus Lennarts Klasse.«
Sie hatte weder ein Bild des jungen Schmidt vor Augen noch von einem der anderen Mitschüler ihres Bruders. Größtenteils kannte sie Lennarts Klasse aus den Erzählungen, mit denen er sie oft zum