Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans. Kim Forester

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Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans - Kim Forester Clans von Cavallon

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betrachtete Lysander Diomedes die Augen, die ihm wütend entgegenfunkelten. Darunter befand sich ein breites Maul, das zu einem stummen Schrei aufgerissen war und so den Blick auf zwei Reihen scharfer Reißzähne freigab.

      Lysander lag mit untergeschlagenen Beinen auf einem Stapel samtener Ruhekissen und ließ seinen Bleistift über das Papier fliegen, während er die todbringenden Hörner des Minotaurus schraffierte. In dem Sandelholzkoffer in seinem Schrank, in dem er, hinter einigen Westen versteckt, seine Kunstwerke aufbewahrte, befanden sich inzwischen Dutzende solcher Bilder, aber dieses hier … Irgendwie gab es das lähmende Entsetzen, das ihn befallen hatte, als er der Bestie leibhaftig gegenübergestanden hatte, besser wieder als alle Zeichnungen zuvor.

      Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er sie wieder vor sich: die muskulösen Arme, die riesigen Hände, die Beine mit den gewaltigen Hufen. Er konnte das Bild, wie die Kreatur aus der Höhle trat, einfach nicht vergessen. Genauso wenig wie das von seinem Vater, als er den Menschenjungen in die Höhle geschubst und dem Minotaurus als Beute dargeboten hatte.

      Sein Vater. Cassio Diomedes, Oberster Chronist. Erster Berater des Königs.

      Cassio Diomedes, Lügner. Bewahrer grausiger Geheimnisse.

      Wie konnte er nur? Die Frage ging Lysander wieder und wieder durch den Kopf, während er die gewaltigen Schultern des Minotaurus zeichnete. Wie konnte er nur Teil von so etwas Schrecklichem sein?

      Und schlimmer noch: Lysander gehörte jetzt auch dazu. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass das Geheimnis um den Minotaurus die eigentliche Königswahrheit war und der Frieden in Cavallon nur dann sicher war, wenn Lysander dieses Geheimnis bewahrte.

      In seiner kurzen Laufbahn als Chronist hatte Lysander das eine oder andere gelernt. Er wusste, dass er nicht genügend Informationen hatte, um die Verschwörung um den Minotaurus aufzudecken. Noch nicht. Und es gab nur einen Weg, die ganze Wahrheit zu enthüllen: Er musste so tun, als würde er mitspielen.

      Als die Zeichnung fertig war, erhob sich Lysander, streckte seine Beine und ging über den weichen, moosigen Teppich zum Schrank, um sie wie die anderen zu verstecken. Dann versuchte er, seinen zerzausten Schweif und die zottelige Mähne zu kämmen, gab jedoch wie immer nach kurzer Zeit auf und ging nach nebenan in sein anderes Zimmer. Dort hatte ihm Melwynne, die Zentaurin, die im Hause Diomedes für den Haushalt zuständig war – Cassio wäre nie so tief gesunken, menschliche Bedienstete einzustellen –, bereits das Frühstück auf einem Tisch am Fenster bereitgestellt.

      Seit er aus dem Gebirge zurückgekehrt war, ließ Lysanders Appetit zu wünschen übrig. Auch an diesem Morgen brachte er nur ein paar Bissen von der cremigen Eierpastete und eine Handvoll Beeren runter. Die Reste verfütterte er an die Vögel draußen auf dem Balkon, damit Melwynne nichts merkte, was Lysanders Vater misstrauisch hätte machen können. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Sonne schien sanft auf die Blumenbeete vor dem Haus und ließ den Fluss in der Ferne glitzern. Das Anwesen der Familie Diomedes hatte eine der besten Aussichten in der ganzen Stadt, die angeblich nur von der des Königspalastes übertroffen wurde, wie sein Vater gerne erwähnte, doch Lysander kam alles blass und eintönig vor.

      Er versuchte, den grauen Bleistiftstaub von seinen Knöcheln zu reiben. Wenn doch nur Alexos Archimedos, sein bester Freund, hier wäre. Aber Alexos war mit ihrer beider Notizen über die Begegnung mit dem Minotaurus sowie Lysanders Zeichnungen geflohen, um sie in Sicherheit zu bringen. Lysander hatte keine Ahnung, wo Alexos jetzt war oder ob er ihn jemals wiedersehen würde. Er hatte versucht, mit Alexos’ Mutter zu reden, die die Große Bibliothek im Zentrum von Coropolis leitete. Vielleicht hatte sie ja von ihrem Sohn gehört? Doch sie war gerade auf dem Weg zu einem Treffen mit dem Rat gewesen und hatte sich nur laut vernehmlich für sein Kommen bedankt und erwidert, dass Alexos den Besuch bei seiner Tante in der Tat sehr genoss. Dann war sie davongeeilt. Was auch immer hier vorging: Lady Archimedos wollte offenbar nicht, dass irgendjemand Alexos’ Verschwinden bemerkte.

      Danach hatte Lysander sie mehrmals in ihrem Haus in der Nähe des Turms der Chronisten aufgesucht, aber sie war immer zu beschäftigt gewesen, um ihn zu empfangen.

      Die Botschaft war eindeutig: Lysander war auf sich gestellt.

      Er stellte sich vor, dass Alexos hier auf dem Balkon neben ihm stand und die Ellbogen aufs Geländer stützte, während sein ordentlich frisiertes goldenes Haar in der Morgensonne schimmerte. Du weißt immer, was zu tun ist, sagte Lysander in Gedanken zu ihm. Ich sollte nicht mal Chronist sein – Vater hat mein Zeugnis gefälscht. Du hättest den Posten bekommen sollen.

      Das hier ist wichtiger, erwiderte Alexos. Was liegt dir mehr am Herzen: die Königswahrheit oder die echte Wahrheit?

      Aber wusste der König überhaupt von dem Minotaurus? Immerhin war König Orsino schon lange krank und seit fast einem Jahr nicht mehr öffentlich aufgetreten. Dennoch war er überall für seine bescheidene, freundliche Art und Weisheit bekannt. Lysander konnte sich nicht vorstellen, dass König Orsino wissentlich daran beteiligt war, Menschen an einen Minotaurus zu verfüttern. Er wird dem Ganzen sicher ein Ende bereiten!

      *

      Der königliche Palast von Coropolis befand sich direkt am Meer und war durch den Fluss vom Rest der Stadt getrennt. Lysander hatte seine feinste Weste angezogen, aber als er beim Palast ankam, war die blaue Seide durchgeschwitzt. Er ging zur Seitentür, in der Hoffnung, dass man ihn dort eher einlassen würde. Immerhin war er am Tag des Gipfeltreffens mit den anderen Chronisten durch diese Tür gekommen.

      Damals waren Dutzende Zentauren, Einhörner, Menschen und Kelpies durch die Tore in den weitläufigen Innenhof geströmt. Heute dagegen war es still und ruhig. Reihen stattlicher Bäume hielten den Lärm der Stadt fern, sodass nur das leise Rauschen der Wellen an Lysanders Ohren drang. Die vielen Stockwerke des Palastes erhoben sich weit über den Rest der Stadt. Einige Räume waren mit Marmor ausgekleidet, auf dem sich das Glitzern des Wassers spiegelte, andere wirkten wohnlich und luftig. Blumenranken und andere blühende Pflanzen hingen über die steinernen Brüstungen.

      Lysander wartete, bis er wieder bei Atem war, und tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann versuchte er, sein Haar glatt zu streichen, schlug mit seinem Schweif und trat auf die beiden Torwächter zu.

      »Guten Tag, meine Herren«, sagte er, wobei er sich bemühte, in demselben aalglatten, selbstbewussten Tonfall zu sprechen, den sein Vater immer anschlug, wenn er es mit niedriger gestellten Personen zu tun hatte. »Ich wünsche eine Audienz beim König.«

      Die beiden Wachen starrten ihn verdutzt an und legten die Köpfe schief, auf denen sie goldene Helme trugen. Dann fing einer der beiden an zu lachen. »Du glaubst, du kannst einfach hier reinspazieren und mit König Orsino sprechen?«

      Lysander versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, auch wenn er spürte, wie sein Gesicht feuerrot anlief. »Nun ja, ich …«

      Der zweite Wächter pikte Lysander mit seinem Speer in die Rippen – nicht so fest, dass es wehtat, aber es genügte, dass Lysander einige Schritte zurückwich und den Sandelholzkoffer mit seinen Bildern und Utensilien fallen ließ. »Verzieh dich, Junge.«

      Lysander schluckte seine Enttäuschung runter und hob den Koffer auf. Während er ihn abwischte, kam ihm plötzlich eine Idee. Er sah auf. »Es tut mir furchtbar leid, ich hätte mich wohl besser erklären sollen. Ich bin gebeten worden, König Orsino zu porträtieren.« Er öffnete den Koffer und zeigte ihnen die Farben, Terpentinfläschchen und Pinsel, die fein säuberlich in Fächern auf der einen Seite steckten, und die beiden weißen, bereits auf Rahmen gespannten Leinwände auf der anderen Seite. Insgeheim hoffte er, dass sie

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