Die neuen Reiter der Apokalypse. Michael Ghanem
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Gründe für die Armut einzelner (Personen)gruppen innerhalb einer Gesellschaft
Auch die Gründe für die Armut einzelner Personengruppen in ansonsten wohlhabenden Gesellschaften sind in der Wissenschaft umstritten.
Strukturelle Theorien
Als strukturelle Theorien werden Theorien bezeichnet, die den Grund für Armut in der Struktur der Gesellschaft sehen. Laut den Strukturtheoretikern kann Armut durch gesellschaftliche Veränderungen bekämpft werden.
Kultur der Armut
Nach Oscar Lewis ist die Lebensweise der Mitglieder der Kultur der Armut von Denk- und Handlungsmustern geprägt, die von Generation zu Generation innerhalb der kulturellen Einheit weiter vererbt würden. Diese Kultur sei zwar einerseits eine funktionale Reaktion auf die Lebensbedingungen in der Armut, aber andererseits schade sie den Armen auch. Kennzeichnend seien zerbrochene Familien. Das Sexualleben beginne früh und man heirate aufgrund mündlicher Übereinkunft. Die Frauen würden oft von ihren Männern geschlagen und zahlreiche auch verlassen. Den Mittelpunkt der Familie bilde die (oft alleinerziehende) Mutter mit ihren Kindern. Diese Kultur der Armut zeichne sich dadurch aus, dass die Armen nach sofortiger Befriedigung ihrer Bedürfnisse strebten. Sie seien nicht in der Lage, ein Bedürfnis zurückzustellen, um später davon zu profitieren. So investierten die Armen zum Beispiel nicht in ihre Ausbildung und auch nicht in die Ausbildung ihrer Kinder. Das führe dazu, dass auch die nächste Generation arm sein werde. Um diese im Sozialisationsprozess verwurzelte Kultur aufzubrechen reiche materielle Unterstützung nicht aus: „The elimination of physical poverty per se may not eliminate the culture of poverty which is a whole way of life“. Die einzige Möglichkeit, die Armut zu beenden, ist laut Lewis eine von außen kommende Intervention, etwa durch kompensatorische Erziehung, Sozialarbeit oder psychotherapeutische Betreuung.
Daniel Patrick Moynihan sah den Zerfall der Familie als Grund für Armut. Er beklagte die hohe Anzahl alleinerziehender Mütter unter Afroamerikanerinnen, welche deviante Werte an ihre Kinder weitergeben würden. So käme es dazu, dass ihre Kinder (welche ansonsten zu Mitgliedern der Mittelschicht werden könnten) zu Mitgliedern der Armutsschicht würden.
Marxismus
Laut Karl Marx entstehen durch die Einrichtung von Eigentum und die damit einhergehende Trennung von Bedürfnis und Mittel zu dessen Befriedigung zwei gesellschaftliche Klassen: Bourgeoisie und Proletariat. Die Bourgeoisie zeichnet sich dadurch aus, dass sie bereits über Eigentum verfügt, also Produktionsmittel wie zum Beispiel Land, Fabriken oder auch Geld zur Produktion von weiterem Eigentum anwenden kann. Der Proletarier zeichnet sich durch seine prinzipielle Eigentumslosigkeit aus, er ist getrennt von allen Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung und hat auch keinen Zugriff auf Produktionsmittel, mit denen er Eigentum schaffen könnte. In dieser Situation ist er dazu gezwungen, sich vom Bourgeois zur Mehrung dessen Reichtums benutzen zu lassen, gegen Lohn. Der Proletarier schafft also Eigentum, aber fremdes, von dem er getrennt ist (das ihm nicht gehört). Als Proletarier ist er ausgeschlossen vom Reichtum der Gesellschaft, also arm. Und gerade indem er arbeitet, verstärkt er seine Armut (bzw. seinen sozialen Ausschluss).
Nach Christoph Spehr ist die aktuelle Armut in der Bundesrepublik Deutschland ein Klassenprojekt von oben.
Freiwirtschaft
„Reichtum und Armut gehören nicht in einen geordneten Staat“ – mit dieser Aussage fasste der Wirtschafts- und Sozialreformer Silvio Gesell seine Überzeugung zusammen, dass Reichtum stets Armut erzeugt. Reichtum, so Gesell, entstehe im Wesentlichen durch leistungslose Einkommen zu Lasten Armer durch Zins und Zinseszins, sowie durch Bodenspekulation.
Diskriminierungstheorien
Als weiterer Grund für Armut bestimmter Personengruppen wird Diskriminierung genannt. Diskriminierung kann entweder direkt oder auch indirekt sein. Von direkter Diskriminierung spricht man, wenn jemand wegen bestimmter Merkmale (wie etwa ethnische Zugehörigkeit, Schichtzugehörigkeit und so weiter) in seinen Möglichkeiten an Geld zu kommen eingeschränkt ist. Ein Beispiel für direkte Diskriminierung wäre eine Stellenanzeige mit dem Zusatz Bewerbungen von Arbeiterkindern/Ausländern/Frauen/Juden zwecklos. In den meisten Ländern ist das heute selten. Als häufiger gilt die indirekte oder mittelbare Diskriminierung. Nach einer Definition der Europäischen Union liegt eine mittelbare Diskriminierung vor,
… wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren bestimmte Personen aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Ausrichtung in besonderer Weise benachteiligen können.
Als Beispiel für eine solche Diskriminierung wird oft das Arbeitsverbot gegen Frauen mit Kopftuch diskutiert. Pierre Bourdieu nannte die Diskriminierung aufgrund eines bestimmten Habitus als Beispiel für indirekte Diskriminierung. Personen mit dem Habitus der Arbeiterklasse seien in den europäischen Gesellschaften benachteiligt.
Wandel der wirtschaftlichen Struktur hin zur Informationsgesellschaft
Die Theorie des wirtschaftlichen Strukturwandels besagt, dass es durch Verschiebungen in der wirtschaftlichen Struktur zu Arbeitslosigkeit und Armut komme. Es würden immer mehr Jobs für Geringqualifizierte wegfallen, da sie ins Ausland verlagert würden oder von Maschinen übernommen würden. Gleichzeitig würde aber das Bildungsniveau der Bevölkerung nicht stark genug ansteigen. In den 1970er Jahren noch waren nur 5 % der Menschen ohne Berufsausbildung arbeitslos. Heute sind es ungefähr 20–25 %. Zum Vergleich: Nur 3,3 % der Akademiker sind arbeitslos. Die Akademikerarbeitslosigkeit ist damit heute nicht höher als in den 1970er Jahren.0 2004 konnten gemäß einer Umfrage des Instituts für Arbeitsmarktforschung (IAB) 10 % der Lehrstellen in Westdeutschland nicht besetzt werden. 77 % der Betriebe gaben als Grund an, dass kein ausreichend qualifizierter Bewerber gefunden werden konnte. Gleichzeitig steckten 600.000 Jugendliche in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Arbeitsagenturen, da sie keine Lehrstelle hatten.
Strukturfunktionalismus und individualistische Theorien
Strukturfunktionalisten wie Herbert Gans sind der Meinung, dass Armut eine gesellschaftliche Funktion erfüllt. Aus diesem Grund trachtet jede Gesellschaft danach, ihre Armen zu haben. Laut Gans dienen die Armen als abschreckendes Beispiel und als Sündenböcke. So helfen sie, die dominante Kultur und Ideologie einer Gesellschaft zu erhalten.
Individualistische Theorien sehen den Grund für die Armut in den Defiziten der Armen selbst. Diese Defizite werden entweder als angeboren oder als erworben angesehen.
Sozialdarwinismus
Der Sozialdarwinismus ist eine Interpretation der Theorien von Charles Darwin. Darwin vertrat die These, dass es unter den Individuen einer Art gut angepasste und weniger gut angepasste gebe. Gut angepasste Individuen hätten im Kampf um das Dasein (struggle for existence) bessere Chancen, bis ins fortpflanzungsfähige Alter zu überleben und eine große Anzahl von Nachkommen zu haben. Gut angepasste Individuen wurden von Darwin als „fit“, schlecht angepasste als „unfit“ bezeichnet. Die Sozialdarwinisten