Fünf Minuten vor Mitternacht. Celina Weithaas
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„Die skandinavische Milliardärstochter möchte mit mir sprechen“, sagt Achim und entfernt sich, ehe ich protestieren oder nur ein Wort sagen kann. Wie hat er sie überhaupt bemerkt? Ich hatte nur Augen für ihn. Ein Verhalten, das meine Eltern nur zu gerne tadeln. Und wenn nicht sie, dann die Öffentlichkeit. Ich wünschte, ein Mal, nur ein einziges Mal würde nicht nur ich mich alleinig in diesen kostbaren Momenten verlieren.
Der Schluck, den ich aus meinem Champagnerglas nehme, ist etwas größer, als es der Anstand gebietet. Verstimmt beobachte ich Achim. Die Dame, auf die er zueilt, ist ein Beispiel dafür, dass reiche Menschen nicht gezwungenermaßen schön sind. Sie ist zu dick, trägt mit Sicherheit die französische Konfektionsgröße achtunddreißig, und hat eine Hakennase im Gesicht, die man in früheren Zeiten vielleicht als edel bezeichnete, die heutzutage jedoch durch eine Operation begradigt werden sollte. Ihre Oberweite ist zu klein und die Finger zu kurz, die Lippen von Hyaluron gedehnt und die Wangen rot geschminkt.
Achim tritt ihr destotrotz mit Respekt und Höflichkeit gegenüber, reicht ihr die Hand und lässt sie vor sich knicksen. Ganz der wohlerzogene junge Mann, bietet er ihr ein Glas Champagner an. Sie hat bereits zu viel getrunken, lacht zu laut, und nimmt es trotzdem in die Hand, um viel zu viel auf einmal hinunterzukippen. Sie wirkt ordinär. Es ist ihr Geld, das es ihr ermöglicht, solchen Festen beizuwohnen, nicht ihr Verhalten. Nicht ihr Äußeres. Trotzdem durchfährt mich ein eifersüchtiger Stich. Weil Achims Aufmerksamkeit auf ihr ruht. Nicht auf mir.
Meine Mutter berührt mich sanft an der Schulter. „Dürfte ich meine Tochter kurz entführen?“, bittet sie mich leise. Ich nicke, spüre die Anwesenheit eines Fotographen und lächle ihm strahlend in die Kamera, ehe ich mein beinahe unberührtes Glas an ihn abtrete und Mutter folge. Immer neue Menschen gratulieren mir zur Volljährigkeit, zu meiner Schönheit, zu meinem Auftreten, während wir uns den Weg in Richtung des Aufzugs bahnen. Manchmal glaube ich fast, Mutter verloren zu haben, aber ihren streng begradigten Rücken in dem smaragdgrünen Kleid erkennt man überall in dieser Gesellschaft wieder. Ihre Haltung gleicht einem Leuchtfeuer der Perfektion. Trotz ihrer schmalen, etwas kleineren Gestalt machen die Menschen ihr Platz, zollen ihr so ihren Respekt, und tun es mir gegenüber gleich. Musste Gioseppe sich mühsam durch die Menge kämpfen, ist es für meine Mutter und mich eine ehrenhafte, gerühmte Aufgabe, unseren Weg zu gehen und die anderen bei Seite treten zu lassen. Der Fahrstuhl wartet geöffnet auf Gäste, die die Festetage verlassen wollen, um zurück in ihre Hotels zu fahren oder sich in einem der oberen Zimmer unseres Towers einzumieten.
Mutters Absätze klacken laut auf dem Marmorboden des Aufzugs, als sie ihn betritt. Die Türen gleiten flüsternd zu und lassen uns in angemessener Stille zurück.
3
Mutter sagt kein Wort, bis wir in ihrem und Vaters Apartment angekommen sind. Die Angestellten grüßt sie nicht, die leise Geigenmusik kommentiert sie nicht, die aus den unsichtbaren Lautsprechern strömt. Kaum schließt sich die Tür klickend hinter uns, zieht sie sich die Schuhe von den Füßen. Ich tue es ihr gleich. Blut schießt stechend zurück in meine Zehen und betäubt sie. Ich wanke. Für einen flüchtigen Augenblick gleichen die kühlen Marmorplatten der hohen See und mein Körper ist dem Toben grausamer Naturgewalten unterworfen. Nur für einen flüchtigen Augenblick. Dann stabilisiert sich meine Wahrnehmung und ich folge Mutter still in den schwach beleuchteten Wohnraum.
Das Licht strömt weißschimmernd aus den schmalen Streifen, die symmetrisch an den Wänden angebracht wurden. Die Sitzgarnitur wurde locker im Zimmer verteilt, die gläsernen Tische strahlen wie eigene Sterne. Wir werfen matte Schatten, vergänglich, kaum greifbar, während das leise Tapsen unserer Füße das einzige Geräusch auf der weiten Welt zu sein scheint. Die Räumlichkeiten meiner Eltern schließen jedes Wispern des Towers aus. Ausschließlich auf diese Weise ist absolute Konzentration auf die Arbeit möglich – und somit das Minimieren von Fehlern. „Wie geht es dir?“, fragt Mutter mich ruhig, sobald wir Platz genommen haben. Die weichen Polster des cremefarbenen Sofas schmiegen sich an meinen Körper und heben mich in den Himmel. Ich spitze die Lippen. Ein ungewohnter Beginn für ein Gespräch mit ihr. Für gewöhnlich gibt es wenig, was irrelevanter ist als meine Gefühlslage. Ob ich glücklich bin oder nicht. Was zählt, sind die zufriedenstellenden Ergebnisse, ganz gleich welche Emotionen sie formten.
Nahezu unsicher hebe ich die Schultern. Eine winzige, unangebrachte Bewegung. Am runden Tisch würden sich die Verhandlungspartner darauf stürzen wie Löwen sich auf ihre Beute. „Sehr gut”, antworte ich, die Stimme gelassen. „Das Fest ist berauschend und Monsieur Depóts Angebot mehr als ich mir erhofft habe.“ Mutter nickt und lässt sich gegen die verglaste Wand sinken. Mit einer knappen, präzisen Bewegung entfernt sie eine der goldenen Haarnadeln aus ihrer makellosen Frisur. Dicke Strähnen fallen ihr in das Dekolleté. Sie betonen auf beinahe ordinäre Weise, was Mutter zu bieten hat. „Der Champagner floss in Strömen”, merkt sie an. „Keine Schwindelgefühle? Blackouts?“ Pikiert spitze ich die Lippen. Eine Frage um mein Befinden bleibt eine Falle, in die ich willig tappe. „Mein Alkoholkonsum hielt sich in Grenzen. Danke der Nachfrage.“ Mutter klatscht zwei Mal in die Hände und der Kamin an der gegenüberliegenden Wand beginnt lichterloh zu brennen. Die knisternde, entspannende Wärme wallt uns entgegen und lässt mich erschaudern. Schon fast gegen meinen Willen schließe ich die Augen und genieße die Hitze auf meiner Haut. Hinter geschlossenen Lidern tanzen Gespenster atemberaubende Reigen, schmiegen sich aneinander. Wie viel würde ich dafür geben, Achim so innig in der Öffentlichkeit berühren zu dürfen wie Schatten und Licht es tun. Seine Nähe so intensiv spüren zu dürfen wie die warme Berührung des Feuers.
„Es ist schön zu beobachten, wie sehr es dich freut, wieder bei deinem Verlobten sein zu können“, sagt Mutter ruhig. Ich nicke matt und lehne mich tiefer in die weichen Polster. Sie scheinen mir ein Gutenachtlied zu singen, untermalt von dem sanften Knistern des Feuers. Nur noch wenige Stunden, dann befindet sich Achim auf der nächsten Reise, immer dem Geld hinterher. Wir sehen uns voraussichtlich wieder, sobald Monsieur Depót zu Verhandlungen einlädt. Wieder werden Berührungen untersagt sein. Ein herzliches Lächeln, ein gestohlener Kuss? Nichts weiter als kühne Träume in einer müden Nacht. Ich kann es kaum erwarten, Achim das Jawort zu geben. Von da an wird sich unser Leben ändern. Das kokette Versteckspiel findet ein Ende, die Presse zerreißt unsere Küsse nicht mehr in der Luft und die Gesellschaft erkennt eine Umarmung als Selbstverständlichkeit an. Ich zähle die Tage bis zu diesem magischen Moment. Diesen Moment, in dem ich zu jemandem gehöre, der mich abgöttisch liebt und meine Meinung achtet.
„Wie laufen die