Fünf Minuten vor Mitternacht. Celina Weithaas

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Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas Die Chroniken des Grauen Mannes

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meines Schreibtisches. Es wird mehr sein als nur ein Traum in Weiß. Ich sehe die Schlagzeilen und Artikel vor mir, ein großes Bild von mir an Achims Seite, wie er den Arm um meine Hüfte geschlungen hat und mich vor aller Augen küsst, ohne dass wir uns den Kopf über Klatsch und Tratsch zerbrechen müssen. Er wird mir einen neuen Ring anstecken, einen, der noch schöner und kostbarer ist als dieser hier, und mir das Versprechen geben, dass ich von nun an immer an seiner Seite sein darf. Dass ich seine Gesellschaft nie wieder werde missen müssen. Dass er mich bis an das Ende unserer Tage bedingungslos liebt.

      „Die Vorbereitungen laufen tadellos.“ Mutter schlägt die Beine übereinander und blickt auf die nächtliche Stadt hinab. Gelbe, rote, blaue Lichter werden auf ihr ebenmäßiges Gesicht gemalt. „Die Feier wird diese hier in den Schatten stellen und wie geplant stattfinden.“ Das bedeutet in gut einem Monat. Allein bei dem Gedanken an das nahe Datum beginnt mein Herz zu rasen und die Röte schießt mir in die Wangen. Nach diesem Tag müssen Achim und ich uns nie wieder die gesamte Nacht lang vor der Festgemeinschaft verstecken. Obwohl ohnehin jeder weiß, dass es sein Verlobungsring ist, der an meinem Ringfinger mit dem Collier um die Wette glitzert. „Kannst du mir sagen, was genau passieren soll? Wer wird auf der Gästeliste stehen?“ Aufgeregt lehne ich mich näher zu Mutter. „Wie viele Blumenmädchen werden für mich organisiert werden? Feiern wir tatsächlich in Europa?“ Mama legt eine Hand auf meine und drückt meine Finger. Eine Geste voller Zuneigung. Das kostbarste Geschenk von allen. „Sieh es als eine Überraschung an, mein Kind.“ Kurz zögert Mutter. „Die nahenden Feierlichkeiten waren nicht das, worüber ich in der heutigen Nacht mit dir sprechen wollte.“

      Ich seufze leise und starre in die zuckenden Flammen des Kamins. Das war mir bewusst. Meine Hochzeit ist nur ein Randevent für meine Mutter. Mag die Presse sie auch für das Ereignis des Jahrzehnts halten, bleibt sie für meine Familie ein weiterer gewöhnlicher Festakt. Viele Worte darüber zu verlieren, ist sowohl für Vater als auch für Mutter verschwendeter Atem. Anstatt sie nach dem eigentlich angestrebten Thema zu fragen, schließe ich die Augen und genieße den Nebel des Alkohols in meinem Kopf. Er macht meine Glieder schwer und lässt mich gegen das Verlangen ankämpfen, mich tief in das Polster der Couch zu schmiegen, die Füße auf Mutters Schoß, und die Müdigkeit mit offenen Armen willkommen zu heißen. Die Uhr neben dem Kamin schlägt elf.

      Noch drei Stunden, dann dürfen Achim und ich in meine Zimmer verschwinden, sollten wir nicht gerade dann in bedeutende Gespräche verwickelt sein. Ich kann Achims wohlbedachten Küsse schon schmecken. Sein leises Lachen hören.

      „Beabsichtigst du noch immer, das College zu besuchen?“, fragt Mutter. Ich nicke. Es ist Pflicht, wenn nicht sogar eine Selbstverständlichkeit. Harvard, Oxford, eines der anderen englischsprachigen, hochgelobten Institutionen, an denen man mich angemessen zu behandeln weiß und mich niemand bedrängt. So brillant man seine Geschäfte auch abwickeln mag, letzten Endes wird man doch auf seinen Abschluss reduziert. Es wird der Tag kommen, an dem ich ein tadelloses Zeugnis benötige – und werde vorzeigen können. „Ein Juraabschluss wäre praktisch“, antworte ich und ringe um neue Energie, die meine Glieder wieder zum Leben erweckt und mich die noch junge Nacht überstehen lässt. „Ebenso Wirtschaft und Psychologie. Ich dachte, das stände außer Frage.“

      Mutter nickt und zieht mir eine der Haarnadeln aus der Frisur. Automatisch halte ich ihre Hand fest. Sie schenkt mir ein leichtes Lächeln. „Darf die eigene Mutter der Tochter nicht mehr dabei helfen, sich bettfertig zu machen?“ „Ich muss noch einmal nach unten gehen.“ Mich verabschieden, für die Fotografen ein letztes Mal posieren, beweisen, dass ich über der Zeit und den Gästen stehe. „Das wird nicht zwingend notwendig sein”, sagt Mutter glatt. „Bilder wurden geschossen, Monsieur Depót ist bereit, sich mit dir und Achim auseinanderzusetzen. Je länger der Abend und je höher der Alkoholpegel, desto gefährlicher wird er.“ Das ist wahr. Die Zunge wird lockerer, der Verstand träger. Ich bin noch nicht Diplomatin genug, um bis tief in die Nacht Geschäfte abwickeln zu können, ohne mich dabei zu verhaspeln oder in eigene Fallen zu tappen. Diese Freuden überlasse ich meinem Vater und meinem Verlobten. Beide beherrschen die nächtlichen Verhandlungen weit besser als ich.

      „Wird Achim bald zu mir kommen?“, frage ich Mutter. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mich endlich an seine Brust zu lehnen und das teure Aftershave einzuatmen. Seinen steten Puls an meiner Wange pochen zu fühlen. Seine Liebe ist ein viel zu seltener Luxus und raubt mir die klaren Gedanken. „Er dürfte bereits in deinem Zimmer auf dich warten.“ Kurz zaudert Mutter, etwas, das man von ihr nicht kennt. Sie wird dafür gefürchtet, dass sie jede noch so komplexe Frage binnen von Augenblicken beantwortet, jederzeit angemessen und korrekt. Zögern kennt sie nicht. Und hat es doch soeben getan. Die Nacht ist lang und anstrengend. Dieses Zucken beweist es.

      „Sag mir, Tochter”, setzt Mutter an und reicht mir ein Glas mit kristallklarem Wasser. Ich stürze es hinunter und genieße den Nachgeschmack von Rosen. Mutter ist dazu übergegangen, mir dieses Getränk regelmäßig reichen zu lassen. Für meinen tadellosen Teint. „Hattest du in letzter Zeit seltsame Träume? Oder wurden dir unerwünschte Gegenstände zugestellt?“ Mein Herz stolpert. Mühsam kontrolliert stelle ich das leere Glas auf dem polierten Tisch ab. Die Briefe. Ich rümpfe leicht die Nase und stehe auf, greife nach meinen Schuhen und schenke Mutter ein professionelles Lächeln, penibel darauf bedacht, dass sie nicht in meinen Ausschnitt sieht und die kleine, weiße Ecke des Umschlags entdeckt. „Nein.“ Ein einziges Wort. Ich scheitere an vier Buchstaben. Mutter wirkt nicht erleichtert. Vielmehr misstrauisch. „Bist du dir sicher?“ Ich streiche mir eine Locke, die mir offen über die Schulter fällt, auf den Rücken und lache leise auf. „Es ist spät, Mama, wir sollten solch ungewöhnliche Gespräche nicht mitten in der Nacht führen.“

      Ich trete vor den Kamin, gebe vor ein letztes Mal die Hitze zu genießen und die Glut zurecht zu schieben, während ich den Umschlag aus meinem Dekolleté ziehe und in die Flammen fallen lasse. Sie erheben sich, umfangen ihn, schenken ihm eine tödliche Umarmung, wie jedem Brief vor ihm auch, ehe sie nichts übriglassen als wenige Ascheflocken. Dass Mutter hinter mich getreten ist, bemerke ich erst, als sie eine Hand auf meine Schulter legt. „Du hast Recht, mein Kind.” Bestimmend reibt ihr Daumen über meinen Nacken. „Ich sehe dich in der Früh beim Brunch. Die ungarischen Oligarchen werden anwesend sein, der König Spaniens und die neureiche Familie. Riva hieß sie meines Wissens nach.“ Der Junge mit der Zahnfüllung, dessen Eltern jämmerliche 200.000 Dollar im Monat verdienen. Ich komme nicht umhin, abfällig die Lippen zu verziehen. Gioseppe Riva hat meine Anwesenheit nicht verdient. Vermutlich weiß diese Familie nicht, wie man die dargebotenen Delikatessen richtig betitelt und verspeist. Sie sind das Menü nicht Wert. „Achim und ich werden pünktlich sein“, verspreche ich ihr. Mutter drückt mir einen Kuss ins Haar. „Deine Entwicklung erfüllt mich mit Stolz, Chrona. Du bist mehr die Tochter, die ich mir wünschte, als ich jemals gehofft habe.“ Ihr Kompliment lässt mich lächeln. Aufrichtig. Stolz fließt durch meine Adern und vertreibt einen großen Teil der alkoholisierten Müdigkeit. „Ich danke dir.“ Rasch drücke ich Mutter einen Kuss auf die linke Wange, dann auf die Rechte, ehe ich zurück in den Fahrstuhl steige. Mutter bleibt vor dem Kamin zurück, stochert in der Glut und beobachtet die züngelnden Flammen. Eine bildhübsche Frau. Von ihr habe ich die anbetungswürdige Haltung und das unvergessliche Gesicht geerbt. Von Vater die dichten, welligen Haare und langen Wimpern. Sie erhebt sich, als die Türen zugleiten und der Aufzug mich nach oben in mein Apartment trägt.

      Kaum betrete ich das Zimmer, verzieht sich mein Mund zu einem breiten Lächeln. Achim sitzt auf meinem Bett, die Krawatte gelöst und das Jackett an die geöffnete Badezimmertür gehängt. Er wirkt erschöpft, die Schultern leicht nach unten gesunken, mit tiefen Schatten unter den hellblauen Augen. Sobald sich der Fahrstuhl summend verabschiedet, um den nächsten Gast in die gewünschte Räumlichkeit zu bringen, blickt Achim auf und schenkt mir das gleiche Lächeln, das er heute schon viel zu vielen Menschen gewidmet hat. Ich lasse mich neben Achim sinken und schlinge die Arme um seinen Hals. Er duftet nach seinem Aftershave, nach Champagner und den Speisen, die man auf dem Buffet finden konnte. Das weiche Kribbeln schleicht sich in meinen Magen. Allein. Endlich. „Wo warst du so lange?“ Seine Lippen streifen

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